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Rassismus in Deutschland: Der Hass von Rostock
Fremdenfeindliche Anschläge: Vor 20 Jahren kam es in Rostock-Lichtenhagen zu gewalttätigen Ausschreitungen gegen Ausländer. Plötzlich ging es um Leben und Tod.
Von unserem Korrespondenten MARTIN FERBER
 |  aktualisiert: 22.06.2022 09:26 Uhr

Deutschland den Deutschen, Ausländer raus!“, skandierten sie laut und immer lauter. Anfangs nur ein kleines Häuflein, doch von Tag zu Tag wurden es mehr und mehr, bis es fast 3000 Menschen aus Rostock und Umgebung waren, die sich am 22. August 1992 vor der Zentralen Aufnahmestelle für Asylbewerber (ZASt) des erst zwei Jahre zuvor wieder gegründeten Bundeslandes Mecklenburg-Vorpommern im tristen Plattenbaubezirk Rostock-Lichtenhagen versammelten, in dem zahlreiche Bürgerkriegsflüchtlinge aus dem früheren Jugoslawien, überwiegend Sinti und Roma, unter zum Teil unzumutbaren Verhältnissen untergebracht waren.

Doch es blieb nicht bei den ausländerfeindlichen Rufen. Die Stimmung heizte sich in jenen Augusttagen vor 20 Jahren dramatisch auf. Fensterscheiben wurden eingeworfen, Molotowcocktails geworfen. Als die Polizei in viel zu geringer Stärke anrückte, kam es zu heftigen Ausschreitungen, Dutzende Beamte erlitten Verletzungen. Die Randale nahmen nicht einmal ein Ende, als das Asylbewerberheim am 24. August geräumt wurde. Nun richtete sich der ganze Hass auf das Haus nebenan, in dem vietnamesische Vertragsarbeiter wohnten, die noch in DDR-Zeiten nach Rostock gekommen waren und sich in ihrem Heim aus Angst vor dem gewalttätigen Mob verbarrikadiert hatten.

Symbol für offenen Rassismus

Und plötzlich ging es um Leben und Tod. Unter dem Beifall und Anfeuerungsrufen der Menschen wurden Brandsätze auf das Haus geworfen, Wohnungen gingen in Flammen auf, Fluchtwege waren versperrt, in letzter Sekunde retteten sich rund 150 Menschen auf das Dach. Dass dabei niemand ums Leben kam, gilt bis heute als Glück – oder Zufall. „Das werde ich mein ganzes Leben lang nicht vergessen“, sagt im Rückblick der damalige Ausländerbeauftragte der Hansestadt Rostock, Wolfgang Richter, der diese dramatischen Szenen im Hochhaus miterlebte und selber um sein Leben bangte.

Nur 22 Monate nach der Wiedervereinigung Deutschlands in Frieden und Freiheit gingen wieder Bilder aus Deutschland um die Welt – dieses Mal allerdings Bilder, die ein anderes Deutschland zeigten: Hass gegen Fremde und offene Ausländerfeindlichkeit, dazu eine Polizei, die viel zu spät eingriff und mit der Lage heillos überfordert war, und Politiker, die die Augen verschlossen hatten, wochenlang hilf- und tatenlos zusahen und sich gegenseitig die Verantwortung zuschoben.

Mit einem Schlag wurde Rostock-Lichtenhagen zum Symbol für offenen Rassismus in Deutschland, die Amerikaner erfanden das Wort „rostocking“, im Rückblick gelten die Ausschreitungen im Plattenbauviertel auf halbem Wege zwischen der Hansestadt und der Ostseeküste als Geburtsstunde des radikalen Rechtsextremismus in den neuen Ländern, der dort bis heute sehr viel stärker als in den alten Ländern ist.

20 Jahre später sind die Verantwortlichen in Rostock und Mecklenburg-Vorpommern davon überzeugt, dass sich Ausschreitungen wie diese unmittelbar nach der Wende nicht mehr wiederholen werden. „Lichtenhagen hat Mecklenburg-Vorpommern verändert, das gehört zu unserer Geschichte und wird immer eine Mahnung bleiben“, sagt SPD-Ministerpräsident Erwin Sellering. Er verweist dabei auf die Zehntausende in seinem Land, die sich in vielen Städten und Gemeinden in lokalen Initiativen gegen Rechtsextremismus einsetzen. Bei einer Gedenkveranstaltung, an der auch der aus Rostock stammende Bundespräsident Joachim Gauck, seit wenigen Tagen Ehrenbürger seiner Heimatstadt, teilnehmen wird, will die Stadt am 26. August an die Ereignisse erinnern und vor dem damaligen Asylbewerberheim, seines riesigen Klinkerbildes an der Fassade wegen „Sonnenblumenhaus“ genannt, in dem heute Deutsche und Ausländer friedlich zusammenleben, eine 20 Jahre alte Eiche pflanzen.

Zur Entwarnung besteht nach Ansicht von Experten und Beobachtern allerdings kein Grund. In der Rostocker Bürgerschaft sitzen derzeit zwei Abgeordnete der NPD, im Landtag von Mecklenburg-Vorpommern ist die rechtsextreme Partei, die 2011 bei den Wahlen 6,0 Prozent der Stimmen erhielt, gar mit fünf Abgeordneten vertreten. Zu den Kandidaten in der Hansestadt gehörte auch, wie während der Olympischen Spiele bekannt wurde, der Freund der Ruderin Nadja Drygalla, Michael Fischer, Mitglied der vom Verfassungsschutz überwachten Gruppe „Nationale Sozialisten Rostock“. Gegen ihn ermittelt die Staatsanwaltschaft, weil er erst im Februar mit seiner Truppe die Teilnehmer einer Gedenkveranstaltung für die Opfer der Zwickauer Terrorzelle angriff.

Vor allem in den strukturschwachen Gebieten Ostvorpommerns im grenznahen Raum zu Polen erreicht die NPD überdurchschnittlich hohe Werte. Nach Erkenntnissen von Wahlforschern gibt es in Mecklenburg-Vorpommern eine NPD-Stammwählerschaft. So vertreten in Umfragen 86 Prozent aller Wahlberechtigten die Auffassung, dass sich die Partei ernsthaft um die Probleme vor Ort kümmere, 62 Prozent der Wähler bezeichnen sich selber als Verlierer der Wende. Ihren höchsten Anteil hat die NPD bei Arbeitslosen (18 Prozent) und männlichen Erstwählern (17 Prozent). Auch in der Gesamtpartei spielt der Landesverband Mecklenburg-Vorpommern eine wichtige Rolle, Udo Pastörs, seit 2006 Fraktionschef im Schweriner Landtag, ist seit November stellvertretender Parteivorsitzender.

Attacken mit Molotowcocktails

Ähnlich gefestigte Strukturen wie im Nordosten der Republik gibt es nur noch in Sachsen. Schon vor den Ausschreitungen in Rostock-Lichtenhagen war es im September 1991 auch im sächsischen Hoyerswerda zu ähnlichen Exzessen gekommen, als Randalierer eine Asylunterkunft mit Molotowcocktails und Stahlkugeln attackierten, Polizisten angriffen und 32 Menschen verletzten. Und vom sächsischen Zwickau aus agierte die dreiköpfige Terrorzelle „Nationalsozialistischer Untergrund“, die zwischen 2000 und 2007 neun ausländische Mitbürger sowie die Heilbronner Polizistin Michele Kiesewetter kaltblütig ermordete sowie mehrere Banken überfiel und bis November 2011 unentdeckt blieb.

So kommt genau 20 Jahre nach den Anschlägen von Lichtenhagen das Bundesamt für Verfassungsschutz zu einer wenig erfreulichen Erkenntnis: „Die bundesweit rund 330 Kommunal- und vor allem die 13 Landtagsmandate in Sachsen und Mecklenburg-Vorpommern dienen der Partei dazu, vorhandene Strukturen regional zu vertiefen und in der Fläche auszubauen.“ Die parlamentarische Präsenz sei zudem für die NPD „ein Agitationsinstrument mit beträchtlicher öffentlicher Resonanz“. Hinter der Maske der Biedermänner organisiere sie ihren „nationalen Widerstand“ gegen das parlamentarisch-demokratische System. Der Nährboden dafür ist vorhanden. Auch ohne brennende Häuser.


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