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NÜRNBERG
Radikalisierung: Nach links. Nach rechts. Dschihad.
Was treibt junge Menschen in den Krieg? Eine Beratungsstelle des Bundes versucht, besorgten Eltern Antworten zu geben. Sie zeigt auch, wie gering der Unterschied zwischen rechter, linker und islamistischer Radikalisierung ist.
Lara Meißner
 |  aktualisiert: 11.03.2015 20:10 Uhr

"Liebe Mama, mach' dir keine Sorgen. Ich bin jetzt in Aleppo, um im heiligen Krieg zu kämpfen. Wir sehen uns im Paradies wieder. Ich liebe dich, dein Sohn." Jedes Wort wie ein Faustschlag in die Magengegend einer Mutter. Eine SMS, getippt auf einem Handy, das ein paar Tage zuvor noch irgendwo in Deutschland in einem Jugendzimmer auf dem Schreibtisch lag. Eben war der Sohn noch Fußballer, jetzt ist er IS-Kämpfer.

„Von kurzen Abschiedsgrüßen, die Jugendliche vor der Ausreise in Krisengebiete hinterlassen, berichten uns Eltern immer wieder“, sagt Politologe Florian Endres, Leiter der Beratungsstelle Radikalisierung des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge in Nürnberg (BAMF). Die deutschlandweit einzige Stelle dieser Art hilft Angehörigen, wieder an ihre Kinder ranzukommen, wenn sie sich in der radikal-islamistischen Szene zu verlieren drohen. Ihre Aufgabe ist es, es nicht bis zu einer solchen SMS kommen zu lassen. Die Nachricht konnte Endres nicht aus einem konkreten Fall zitieren, das untersagt der Datenschutz. Aber er kann Gründe nennen, warum Jugendliche zu Terroristen werden können.

Ein Rückblick: Im März 2011 beginnt der arabische Frühling. Aus den friedlichen Protesten entwickelt sich 2013 in Syrien ein Bürgerkrieg und die größte Flüchtlingskatastrophe seit dem Völkermord in Ruanda. Doch es fliehen nicht nur Menschen aus Syrien und dem Irak: 600 Personen haben laut Innenministerium seit 2011 Deutschland verlassen, um im Dschihad zu kämpfen. Für sie ist der Kampf gegen die Ungläubigen an der Seite von IS-Terroristen ein kurzer Stopp auf dem Weg ins Paradies. Für ihre Angehörigen ist es der Horror.

Der Weg nach Syrien ist lang, nicht nur geografisch. „Je eher sich besorgte Angehörige bei uns melden, umso mehr können wir noch tun, um eine mögliche Ausreise zu verhindern“, sagt Endres. Seine Mitarbeiter an der Beratungshotline sind erste Ansprechpartner, wenn sich ein junger Mensch zum Extremisten zu wandeln droht. In 75 Prozent der Fälle handelt es sich um junge Männer. Acht bis zehn neue Beratungsfälle gehen derzeit wöchentlich bei der Beratungsstelle ein. Aus den 1300 Erstanrufen seit Start der Beratung im Jahr 2012 haben sich 470 längerfristige Beratungen ergeben.

Die Angehörigen, oft die Mütter der meist 16- bis 20-Jährigen, schildern die Situation. Der Sohn lässt sich einen Bart stehen, ist zum äußerst konservativen Islam konvertiert, hat mit seinem Freundeskreis gebrochen, war bei einer Koranverteilung dabei, sein Facebook-Account hat sich verändert. „Das sind klassische erste Hinweise für eine Hinwendung zum Salafismus“, so Endres. Stellen die Berater – Islamwissenschaftler, Psychologen, Sozialarbeiter – fest, dass eine Familie Hilfe braucht, wendet sich binnen 24 Stunden ein Mitarbeiter einer zivilgesellschaftlichen Partnerorganisation an sie und vereinbart einen Termin – ohne den Jugendlichen. An den ist oft schon nicht mehr ranzukommen, zu tief steckt er bereits in einem Sumpf, der manchem anmuten mag wie eine Jugendsubkultur.

Die Salafisten sprechen die jungen Leute dort an, wo sie ohnehin unterwegs sind: Auf Sportplätzen, in Fußgängerzonen, im Netz. Die radikalen Glaubensbrüder bieten sofort im ersten Gespräch Antworten auf Sinnfragen und Problemlösungen – alle religiöser Art, versteht sich. Vermeintliche Hilfestellungen, die im sonstigen Privatleben oft fehlen.

Dort gab es, so Endres' Erfahrung, oft schon vorher Probleme. Das Kind wurde „so nebenbei großgezogen“, hat nicht genug Aufmerksamkeit von den Eltern bekommen, die erste Beziehung ist zerbrochen, in der Schule läuft es nicht – Faktoren, die das Privatleben destabilisieren und somit den Weg für eine Radikalisierung ebnen. Und zwar „egal ob rechts, links oder im salafistischen Milieu“, sagt Endres. Und unabhängig davon, welcher Religion jemand angehört oder ob er einen Migrationshintergrund hat. Bei 55 Prozent der Beratungsfälle arbeitet das BAMF mit Familien ohne Migrationshintergrund, unter den restlichen 45 Prozent sind nicht nur Muslime. Auch der religiöse Hintergrund spielt keine große Rolle.„Wir bemerken eher, dass Jugendliche, die kaum oder gar nicht religiös erzogen wurden, scheinbar am anfälligsten sind.“

Die Gründe, radikal zu werden – egal ob links, rechts oder islamistisch – sind andere. Beim BAMF vergleicht man die Radikalisierung mit einer Bushaltestelle, an der der Jugendliche gestrandet ist, weil er Probleme nicht lösen kann: „Ganz egal, welcher Bus anhält, da steigt er dann ein.“ Nach rechts, nach links, in den Dschihad.

Ein passendes Beispiel ist Harun P. (Bild unten), ein 27-jähriger Münchner. Momentan muss er sich vor dem Oberlandesgericht in München verantworten. Ihm wird vorgeworfen, gemeinsam mit anderen Kämpfern das Gefängnis in Aleppo besetzt und Menschen getötet zu haben. Als er nach der Tat nach Deutschland zurück wollte, wurde er festgenommen. Mit einer Beratungsstelle stand er nach derzeitigem Ermittlungsstand vorher nicht in Kontakt. Nur knapp hat Harun P. seinen Hauptschulabschluss geschafft, dann drei Ausbildungen abgebrochen, sich geritzt. Als das erste Kind früh starb, zerbrach seine Beziehung. Ein Leben voller Baustellen und tragischer Wendungen, die in Selbstzweifel mündeten. Und schließlich in dem Wunsch, ein starker Kämpfer zu sein.

Wer in eine radikale Gruppe kommt, der ist wieder wer, hat Gleichgesinnte um sich, Menschen, die ihn vermeintlich verstehen. Oft kommen väterliche Führungspersonen dazu, zu denen die jungen Leute aufschauen können – Faktoren, die vorher oft gefehlt haben. Und: Die Gruppen sind eine Partnerbörse. „Frauen, die ins salafistische Milieu geraten, träumen davon, die Ehefrau eines Kämpfers zu werden. Für sie ist das die Eintrittskarte ins Paradies – auch wenn sie die dritte oder vierte Frau sind“, sagt Endres.

Anders als bei Links- oder Rechtsextremen kann das Umfeld bei einer Hinwendung zum Salafismus im Laufe der Zeit immer weniger Einfluss nehmen. Wer radikaler Salafist werden will, muss mit seinem alten Umfeld, „den Ungläubigen“, brechen. Der Jugendliche tritt dann zu Hause plötzlich ganz anders auf, missioniert oder fordert, dass sich alle der neuen Glaubensrichtung zuwenden. „Auf einmal sollen dann in einem religiös-neutralen Haushalt muslimische Gebetszeiten eingehalten werden oder es darf kein Alkohol mehr auf dem Tisch stehen“, schildert Endres seine Erfahrungen aus Beratungsgesprächen. „Die Jugendlichen sagen ihren Eltern ins Gesicht: ,Du musst den Islam annehmen, sonst können wir uns im Paradies nicht wiedersehen'“.

Ob der Glaube ans Paradies reicht, um jemanden einen gefährlichen Salafisten zu nennen? Nein. „Die Grenze zwischen dem puristischen Salafismus, der eigentlich jedes politische Engagement verbietet, und dem politischen und dschihadistischen Salafismus ist allerdings fließend“, so Endres. 2012 sagt der damalige Präsident des Verfassungsschutzes, Heinz Fromm: „Nicht jeder Salafist ist ein Terrorist. Aber jeder uns bekannte Terrorist aus dem islamistischen Milieu war irgendwann einmal in salafistischen Zusammenhängen unterwegs.“ Genau aus dem Grund empfiehlt Endres den Anrufern immer, ihren Angehörigen zu beobachten. Manchmal reicht das schon. „Wir raten den Eltern: ,Gehen Sie mit in die Moschee, fragen Sie nach, zeigen Sie Interesse am Leben ihres Kindes.' Und auf einmal merkt der junge Mensch, dass sich wieder jemand für ihn interessiert – und manchmal kehrt er dem Milieu dann von ganz alleine wieder den Rücken zu.“

Passiert das nicht, müssen die Berater ran – meist über die klassische Sozialarbeit. „Es spricht niemand die Jugendlichen an und diskutiert mit ihnen die Auslegung des Korans“, sagt Endres. Es wird geschaut, wo im Leben der junge Mensch Hilfe braucht – denn eine stabile Lebensgrundlage entzieht den Salafisten den Boden ihrer Missionierung.

Bringt das alles nichts, greifen andere Mechanismen: Die Polizei führt Gefährderansprachen durch, der Pass wird entzogen, um eine Ausreise tunlichst zu verhindern. Seit 2012 gab es in der Beratungsstelle 70 dieser „Fälle mit Syrienbezug“, wie Endres sie nennt. Aussteiger sind bislang nicht darunter. „Wer einmal richtig drin ist, steigt aus der salafistischen Szene nur schwer aus.“ Zudem ist das Phänomen zu jung, um wirklich Erfahrungen mit Aussteigern zu haben. Ein Teil der 70 konnte vor der Ausreise gestoppt werden, ein Teil ist auf dem Weg verschollen, ein Teil ist tot.


Rat und Hilfe

Die Beratungsstelle gibt es seit 2012. Der Impuls, sie zu gründen, kam von Sicherheitsbehörden, die einen erhöhten Bedarf festgestellt haben. 450-mal hat die Stelle schon Familien geholfen. 2014 gab es doppelt so viele Anrufe wie in den Jahren 2013 und 2012 zusammen. Erreichbar ist die Stelle unter:

Tel. (09 11) 943 43 43.

7000 radikalislamistische Salafisten gibt es laut Verfassungsschutz in Deutschland. 600 Personen sind seit 2011 aus Deutschland nach Syrien oder in den Irak ausgereist, um den IS zu unterstützen. 60 von ihnen sind laut Innenministerium gestorben.

Auf Anfrage sagt das Innenministerium, dass im Mai oder Juni das Gesetz in Kraft tritt, das es den Behörden erlaubt, zusätzlich zum Reisepass auch den Personalausweis zu entziehen. Außerdem hat das Kabinett Anfang Februar ein Gesetz verabschiedet, das die grundsätzliche Ausreise gewaltbereiter Islamisten nach Syrien und in den Irak unter Strafe stellt.

 
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