
Viel hat er bereits gesehen, noch mehr erlebt. Als er am 19. November 1972 zum ersten Mal als gerade 30-Jähriger in den Deutschen Bundestag gewählt wurde, waren Willy Brandt von der SPD Bundeskanzler, Hans-Dietrich Genscher Innenminister und Walter Scheel (beide FDP) Außenminister. „Die Stimmung war aufgeladen, und überhaupt prägte seinerzeit eine extrem spannungsvolle Atmosphäre das Land“, erinnert sich Wolfgang Schäuble an seine Zeit als Jungparlamentarier. Der Streit um die Ostverträge polarisierte, mobilisierte und politisierte die gesamte Gesellschaft. „Geschadet hat es ihr nicht – genauso wenig wie die Erregung Anfang der 80er Jahre“, als der Streit um den Nato-Doppelbeschluss das Land spaltete. „Veränderung war also immer, und vieles wird in der Rückschau anders bewertet als mitten im Streit.“
Wolfgang Schäuble weiß, wovon er spricht. 45 Jahre nach seinem ersten Einzug in den Bundestag sitzt er am Dienstagmittag bei der konstituierenden Sitzung des 19. Deutschen Bundestages auf dem erhöhten Podium an der Stirnseite des Plenarsaales, direkt unter dem großen Bundesadler, und spricht als neu gewählter Präsident des Parlaments zu den 709 Abgeordneten, die zu ihrer ersten Sitzung zusammengekommen sind, unter ihnen 289 Neulinge, das sind fast 40 Prozent. Und verbreitet vor allem eines – Zuversicht. Da er aus eigenem Erleben wisse, „dass Erregung und Krisengefühle so neu nicht sind, sehe ich mit Gelassenheit den Auseinandersetzungen entgegen, die wir in den kommenden Jahren führen werden“. Mehr noch, der Bundestag habe diese Debatten „stellvertretend für die Gesellschaft“ zu führen, die die Abgeordneten „eben auch in ihrer Vielheit und Verschiedenheit repräsentieren“.
Respekt füreinander angemahnt
Ohne die nationalkonservative AfD, deren 92 Abgeordnete von ihm aus gesehen ganz rechts sitzen, auch nur ein einziges Mal beim Namen zu nennen, wissen doch alle, wer gemeint ist, als er sich in eindringlichen Worten zwar für den politischen Streit ausspricht, aber die Einhaltung der parlamentarischen Regeln anmahnt. Es habe „Töne der Verächtlichmachung und Erniedrigung“ gegeben, klagt er, das habe „keinen Platz in einem zivilisierten Miteinander“. Alle Abgeordneten seien aus der Mitte der Bürgerinnen und Bürger gewählt. „niemand aber, niemand vertritt alleine ,das‘ Volk.“ So etwas wie der „Volkswille“ entstehe überhaupt erst in und mit unseren parlamentarischen Entscheidungen. Bei allem Streit, der emotional, sachlich und nachvollziehbar bleiben müsse, gelte es, Respekt füreinander zu haben und Fairness zu zeigen. „Prügeln sollten wir uns hier nicht.“ Und wenn die Mehrheit einen Kompromiss gefunden und eine Entscheidung getroffen habe, gehöre es zu den Regeln, diese nicht als „illegitim oder verräterisch oder sonst wie zu denunzieren“.
Der Einzug der AfD prägt die erste Sitzung des neuen Bundestages und sorgt für einen neuen Ton wie einen anderen Umgang. Alle anderen Fraktionen halten sichtlich Distanz zu den Neulingen, die vor der Sitzung unter sich bleiben, während sich die Parlamentarier aller anderen Parteien herzlich begrüßen und miteinander reden. Die Liberalen, die gegen ihren Willen neben den Rechtspopulisten sitzen und einen Platz in der Mitte des Plenarsaals fordern, wenden ihnen gar demonstrativ die Rücken zu. Und auch den Antrag der AfD, nicht den dienstältesten Abgeordneten, sondern den an Jahren ältesten Abgeordneten nach alter Tradition zum Alterspräsidenten zu wählen, der aus ihren Reihen käme, lehnen alle anderen Fraktionen geschlossen ab. Da hilft es auch nicht, dass AfD-Fraktionsgeschäftsführer Bernd Baumann auf die seit 1848 bestehende Tradition hinweist und empört von „Trickserei“ spricht. Der Einzige, der mit dieser Tradition gebrochen habe, sei Hermann Göring von der NSDAP 1933 gewesen, als er die Kommunistin Clara Zetkin verhindern wollte – ein Vergleich, der bei allen anderen für Empörung sorgt. „Wie groß muss ihre Angst vor der AfD und ihren Wählern sein, wenn sie zu solchen Mitteln greifen?“, fragt Baumann, um drohend fortzufahren: „Es beginnt eine neue Epoche.
Von dieser Stunde an werden hier Themen neu verhandelt.“ Das gelte unter anderem die für Euro- und die Einwanderung.
Doch die anderen Fraktionen lassen sich von diesem Auftritt nicht beirren. Sie bleiben bei der Entscheidung, dass der 76-jährige Liberale Otto Hermann Solms als Alterspräsident die Sitzung eröffnet und bis zur Wahl Schäubles leitet.
Plädoyer für repräsentative Demokratie
Der langjährige Fraktionschef der FDP sowie Bundestagsvizepräsident hält in seiner Rede ein eindrückliches Plädoyer für die repräsentative Demokratie und appelliert an die Abgeordneten, ihre Rechte wie ihre Pflichten wahrzunehmen. Nicht die Regierung halte sich ein Parlament, vielmehr wähle und kontrolliere der Bundestag die Regierung. Mit Blick auf die AfD warnt er davor, „Sonderregelungen zu schaffen, auszugrenzen oder gar zu stigmatisieren“, gleichzeitig nimmt er aber auch die Abgeordneten der neuen Fraktion in die Pflicht: Demokratie bedeute, dass man mit Mehrheit entscheide, aber die Rechte von Minderheiten achte. Das Parlament müsse „ein Spiegelbild der Meinungsvielfalt in der Bevölkerung“ sein. Zudem fordert er den neuen Bundestag mit Blick auf die Rekordzahl von 709 Abgeordneten zu einer raschen Reform des Wahlrechts auf.
„Die Größe dieses aufgeblähten Parlaments trägt eher dazu bei, dass die Arbeitsfähigkeit des Bundestages genauso wie sein Ansehen bei den Bürgern leidet“, sagt Solms. Es dürfe dabei „keine taktischen Machtspiele“ geben.
So ganz nebenbei zeichnen sich in der konstituierenden Sitzung auch schon die neuen Machtverhältnisse und künftige Mehrheiten ab. Anträge der AfD, der SPD und der Linken auf Änderungen der Geschäftsordnung, eine Neuregelung der Regierungsbefragung oder die Einsetzung der vier im Grundgesetz vorgegebenen Ausschüsse lehnen CDU, CSU, FDP und Grüne mit ihren Stimmen ab. Jamaika funktioniert bereits. Obwohl Jamaika noch gar nicht regiert.