Der ARD-„Deutschlandtrend“ hat es gezeigt: Die Zustimmungswerte für die Bundesregierung sinken. Auch die für Bundeskanzlerin Angela Merkel. Innerhalb der EU gibt es nicht nur keine einheitliche Linie in der Flüchtlingspolitik, sondern sogar sich zuspitzende Kontroversen. Es sieht nicht gut aus für die Kanzlerin. Oder doch? Der Konstanzer Politikwissenschaftler Wolfgang Seibel sieht allerdings keine Alternative zu Angela Merkel.
Wolfgang Seibel: Da reicht eigentlich ein Blick ins Grundgesetz und in die politische Landschaft, wie sie derzeit auf Bundesebene aussieht. Die Bundeskanzlerin kann ihr Amt nur verlieren, wenn gleichzeitig mit ihrer Abwahl im Bundestag eine Nachfolgerin oder ein Nachfolger gewählt wird – das ist das sogenannte konstruktive Misstrauensvotum – oder, wenn sie die Vertrauensfrage stellt und dafür im Bundestag nicht die Mehrheit der Abgeordnetenstimmen erhält.
Ein Nachfolger oder eine Nachfolgerin aus CDU oder CSU mit Aussicht auf größere Unterstützung als Merkel sie genießt, ist weit und breit nicht in Sicht, vor allem aber auch nicht die Unterstützung des Koalitionspartners SPD für einen solchen Wechsel im Kanzleramt. Und auch die Ablehnung der Vertrauensfrage der Kanzlerin durch den Bundestag würde ja voraussetzen, dass der Koalitionspartner SPD von der Fahne geht. Das kann man sich aber gegenwärtig schon deshalb nicht vorstellen, weil die SPD sich noch nicht einmal darüber einig wäre, wer sie als Kanzlerkandidat in einen vorgezogenen Bundestagswahlkampf führen sollte.
Seibel: Einige in der baden-württembergischen CDU würden vermutlich in einem solchen Fall der Versuchung nicht widerstehen, die eigene Niederlage der Kanzlerin anzulasten. Aber andere würden sich wohl auch die Frage stellen, ob man wirklich mit dem stärksten aller denkbaren Spitzenkandidaten in den Wahlkampf gezogen ist. Viel wichtiger für die CDU und damit auch für die Bundeskanzlerin ist aber die Wahl in Rheinland-Pfalz.
Denn hier besteht die reale Chance, dass mit der Spitzenkandidatin Julia Klöckner eine CDU-Frau Ministerpräsidentin wird, die es sehr geschickt verstanden hat, sich einerseits von Frau Merkel in der Flüchtlingspolitik vorsichtig abzusetzen und der Kanzlerin andererseits nicht in Seehofer-Manier in den Rücken zu fallen. Ein Sieg von Julia Klöckner in Rheinland-Pfalz würde ein schlechtes Abschneiden der CDU in Baden-Württemberg weit überstrahlen. Problematisch würde es für die Kanzlerin nur, wenn die CDU in Baden-Württemberg bei der Landtagswahl deutlich absackt und es für Frau Klöckner in Rheinland-Pfalz am Ende doch nicht reicht.
Seibel: Tatsächlich vollzieht sich derzeit eine Verrohung der politischen Auseinandersetzung in Worten und im Übrigen ja auch in Taten. Wenn man etwa daran denkt, dass sich ausländerfeindliche Gewaltanschläge nach den Feststellungen des Bundeskriminalamts im Jahr 2015 verfünffacht haben.
Und es muss natürlich auch sehr bedenklich stimmen, wenn nicht nur auf einer Pegida-Kundgebung, sondern auch auf der großen Demonstration gegen das transatlantische Handelsabkommen TTIP in Berlin im vergangenen Herbst symbolisch Galgen oder Fallbeile aufgestellt wurden, auf die dann die Namen der Bundeskanzlerin und des Vizekanzlers Sigmar Gabriel geschmiert waren. Ich habe hier übrigens sehr eine Distanzierung der TTIP-Gegner vermisst, zu denen ja interessanterweise auch die AfD gehört.
Seibel: Tatsächlich befindet Merkel sich an der entscheidenden Wegscheide ihrer Kanzlerschaft. Sie kann im Strudel der Flüchtlingskrise untergehen, sie kann aber auch aus dieser Krise immer noch als die souveräne Siegerin hervorgehen. Mit ihrer großen humanitären Geste von Anfang September 2015 hat sie die Grenze zwischen Österreich und der Bundesrepublik offen gehalten und damit wahrscheinlich eine schwere humanitäre Krise auf der gesamten Balkanroute mit unabsehbaren Konsequenzen abgewendet. Das war sowohl moralisch als auch realpolitisch vollkommen richtig. Nach meiner Einschätzung hat Merkel keineswegs aus humanitärem Gesinnungseifer ohne Rücksicht auf die Folgen gehandelt, ganz im Gegenteil.
Ihr war und ist wahrscheinlich sehr bewusst, dass die kleineren und zum Teil ohnehin instabilen Länder Südosteuropas unter dem gewaltigen Zuwanderungsdruck zusammenbrechen würden, wenn Deutschland das täte, was viele, auch in der eigenen Partei, von der Bundeskanzlerin fordern, nämlich die Grenzen dichtzumachen. Das würde entlang der Balkanroute buchstäblich Mord und Totschlag bedeuten und dies wiederum wäre eine direkte Bedrohung für den Frieden in Europa. Ich vermute also, dass die Bundeskanzlerin die Dinge genau auf diese Weise kühl und strategisch sieht. Und dazu gehört eben auch die Einschätzung, dass unsere Gesellschaft eine von Deutschland womöglich mitverursachte humanitäre Katastrophe auch wegen der damit verbundenen moralischen Belastungen nur schwer verkraften würde. Es ehrt die Bundeskanzlerin zusätzlich, dass sie keine leeren Versprechungen macht, um dem Rückschlag bei ihren persönlichen Beliebtheitswerten entgegenzuwirken. Sie zehrt von ihrem hohen Vertrauenskapital, und das ist nach meinem Eindruck noch lange nicht aufgebraucht.
Seibel: Es liegt in der Natur der Dinge, also auch der Medienberichterstattung, dass über die kritischen Stimmen insbesondere in Bezug auf Merkels Flüchtlingspolitik, wesentlich intensiver berichtet wird als über die nach wie vor große Unterstützung, die Merkel in ihrer Partei genießt. Schließlich ist man in der CDU nicht wenig stolz darauf, dass die Parteivorsitzende auch international ein enormes Ansehen genießt. Das spricht gerade die Konservativen in der CDU an, denn noch nie war Deutschland derart einflussreich bei der Gestaltung der europäischen Politik wie unter der Kanzlerschaft von Angela Merkel.
Wolfgang Seibel
Der Wissenschaftler, geboren 1953, hat seit 1990 an der Universität Konstanz den Lehrstuhl für Innenpolitik und öffentliche Verwaltung inne. Unter anderem hat er sich wissenschaftlich mit UN-Friedensmissionen auseinandergesetzt. Seibel ist außerdem an der Hertie School of Governance in Berlin tätig. Wegen seiner Forschung zum Holocaust wurde er mehrfach zu Forschungsaufenthalten nach Princeton (USA) eingeladen. Zudem ist Seibel Mitglied der Heidelberger Akademie der Wissenschaften. SK/Foto: SK