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MÜNCHBERG
Politik gegen Gaffer
Schaulustige Wer bei einem Unfall nur zuschaut oder Fotos ins Netz stellt, macht sich strafbar. Diese Drohung schreckt aber nur die wenigsten ab.
Unfall Reisebus in Münchberg       -  Fahrzeuge stauten sich nach dem Unfall am Montag bei Münchberg auf der Autobahn 9.
Foto: Nicolas Armer, dpa | Fahrzeuge stauten sich nach dem Unfall am Montag bei Münchberg auf der Autobahn 9.
Günter Flegel
 |  aktualisiert: 11.12.2019 14:37 Uhr

Jörg-Steffen Höger und seine Tochter Annika werden im Internet wie Helden gefeiert: Der Feuerwehrmann aus Marxgrün, einem Stadtteil von Naila (Lkr. Hof) und die ausgebildete Sanitäterin waren zuerst vor Ort, als der Reisebus auf der A9 in Flammen stand – zufällig. „Wir waren auf der Autobahn unterwegs, und ich habe schon von Weitem die Rauchwolke gesehen“, sagt Höger.

Das hat der Marxgrüner mit vielen hundert Autofahrern gemeinsam, die zu Augenzeugen der Katastrophe wurden. Der Unterschied: Alle anderen blieben in ihren Autos sitzen, schauten zu oder zückten das Smartphone – in den seltensten Fällen um Hilfe zu rufen, sondern um das „Ereignis“ festzuhalten.

Vater und Tochter Höger dagegen schalteten sofort in den Modus „helfen“. Er verständigte per Handy die Rettungskräfte und gab ihnen eine wichtige Zusatzinformation: Unweit der Unfallstelle befindet sich eine Behelfsauffahrt auf die Autobahn. So waren die Einsatzkräfte viel schneller vor Ort. Von Högers Notruf bis zum Eintreffen der Helfer vergingen kaum zehn Minuten – das war schnell, aber doch nicht schnell genug.

Höger wartete nicht ab, wie er schildert: Er stellte das Schild „Feuerwehr im Einsatz“ auf das Dach seines Wagens und bahnte sich den Weg durch den Stau. Bei dem in hellen Flammen stehenden Bus war der Feuerwehrmann machtlos. Er kümmerte sich mit seiner Tochter um die Verletzten, die sich aus dem Bus hatten retten können.

„Jeder hätte helfen können“, sagt Höger. „Jeder hat einen Verbandskasten im Auto, jeder kann etwas tun“ – und sei es auch nur, einem Verwirrten gut zuzureden. In den Minuten des Infernos hatte Höger keinen Blick für das, was um ihn herum geschah, er konzentrierte sich auf die Unfallopfer. Mit zwei Tagen Abstand wird ihm das Unfassbare der Situation deutlich: „Alle sind in ihren Autos sitzen geblieben. Keiner hat geholfen.“

Dabei ist in Deutschland sogar gesetzlich geregelt, was moralisch selbstverständlich sein sollte: Paragraf 323 des Strafgesetzbuches (StGB) lässt keinen Spielraum: „Wer bei Unglücksfällen oder gemeiner Gefahr nicht Hilfe leistet, wird mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe bestraft.“

In der Realität sind Urteile aber selten. Gerade in den ersten Minuten haben die professionellen Helfer und die Polizei Wichtigeres zu tun, als Beweise gegen Nicht-Helfer zu sichern. Das gilt auch bei einem anderen Straftatbestand, der durch die Handy-Kameras eine neue Dimension erreicht hat: Gaffer stehen nicht nur den Rettungskräften im Weg. Sie werden selbst zu Tätern, wenn sie Fotos oder Videos von Unfallopfern machen und im Internet verbreiten.

In Paragraf 201 des StGB heißt es dazu: „Mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren oder mit Geldstrafe wird bestraft, wer eine Bildaufnahme, die die Hilflosigkeit einer anderen Person zur Schau stellt, unbefugt herstellt oder überträgt und dadurch den höchstpersönlichen Lebensbereich der Person verletzt.“

In Bremervörde hat es Urteile in einem spektakulären „Gaffer-Prozess“ gegeben; dabei ging es aber weniger um die nach einem Unfall geschossenen Bilder als vielmehr um die Behinderung der Einsatzkräfte und Widerstand gegen Polizeibeamte. In der Regel kommen die sensationslüsternen „Fotografen“ straffrei davon, weil die Beweisführung gerade in der Anonymität des Internets schwierig ist.

Machen Strafen gegen Gaffer, deren Verschärfung nach dem Unfall auf der A9 Bundesverkehrsminister Alexander Dobrindt und Bayerns Innenminister Joachim Herrmann (beide CSU) fordern, überhaupt Sinn? Der Katastrophenforscher Wolf Dombrowsky hat Zweifel. Zunächst einmal sei jeder ein potenzieller Gaffer, denn Neugierde „liegt in der Natur des Menschen und lässt sich auch durch Strafen nicht austreiben“.

Die Unart der Handy-Bilder sei etwas anderes. „Da geht es um die Selbstinszenierung: ,Seht her, ich war dabei.' Die Drohung mit Strafe erzeugt da den Reflex, sich nicht erwischen zu lassen“, sagt Dombrowsky. Man müsse andere Wege gehen, etwa die Gaffer begaffen und so ihrerseits bloßstellen – was natürlich rechtlich schwierig ist.

Und die moderne Technik ist Fluch und Segen: Fotos von Augenzeugen können der Polizei bei der Aufklärung von Straftaten und Unglücksfällen helfen.

Um die Rettungskräfte nach einem Unfall nicht zu behindern, müssen Autofahrer zudem auf Autobahnen rechtzeitig eine Rettungsgasse bilden. Dazu sind sie laut Straßenverkehrsordnung verpflichtet. Auf Autobahnen und außerorts auf Straßen mit mindestens zwei Spuren für eine Richtung gilt: Sobald Fahrzeuge nur noch mit Schrittgeschwindigkeit rollen oder bereits stehen, müssen sie eine Gasse freimachen. Sie wird immer zwischen der äußersten linken Spur und der rechts daneben gebildet: Fahrer auf der linken Spur fahren also immer etwas nach links, die anderen orientieren sich nach rechts. Das gilt auch für vier Spuren – die Regeln hierzu sind inzwischen vereinfacht worden.

Wer auf einen Stau zufährt, sollte nicht nur abbremsen und den Warnblinker anstellen, sondern sich sofort auf das Bilden der Rettungsgasse einstellen, um in Formation fahren zu können, wenn der Verkehr stockt.

„Da kann ich mich schon bei langsamer Fahrt auf der linken Spur schon mal nach links orientieren und auf den rechten Spuren nach rechts“, sagt eine ADAC-Sprecherin. Zwar seien Unfälle nicht die Ursache für die meisten Staus. „Doch das kann ich als Autofahrer nicht wissen.“ Daher sei bei jedem Stau die Gasse zu bilden, die auch breit genug für größere Einsatzfahrzeuge sein müsse.

Für Autofahrer ist es dabei verboten, den Einsatzautos in der Rettungsgasse zu folgen. Laut ADAC versuchen Autofahrer die Gasse oft erst dann hektisch zu bilden, wenn sie das Martinshorn hören. Doch das sei zu spät, zumal dann auch zwischen den Autos der Platz zum Rangieren meist fehle. Daher rät der ADAC im Stau zu mindestens zwei Autolängen Abstand. Auch komme es vor, dass Autofahrer die Gasse wieder schließen, sobald ein Fahrzeug durchgefahren ist. „Doch bei vielen Unfällen müssen meist mehrere Einsatzfahrzeuge durchfahren“, sagt die ADAC-Sprecherin. Die Autofahrer dürfen die Gasse erst dann wieder schließen, wenn sich der Stau auflöst. Einer Forsa-Umfrage zufolge weiß jeder zweite Autofahrer nicht, wie er auf einer dreispurigen Straße die Rettungsgasse richtig bilden muss. Wie das bei zwei Spuren in einer Richtung korrekt funktioniert, weiß jeder Dritte nicht.

Nach dem Busunglück haben Notfallseelsorger die Polizei in Sachsen in mehr als einem Dutzend Fällen beim Überbringen der Todesnachrichten an Opfer-Angehörige begleitet. 15 Mal seien am Montag Helfer der Kriseninterventionsteams tätig geworden, sagte der Koordinator des Einsatzes, Polizeiseelsorger Christian Mendt, der Deutschen Presse-Agentur in Dresden. Die allermeisten Businsassen stammten aus Sachsen.

Trotz der schrecklichen Umstände habe das Zusammenspiel von „Hauptamtlichen und Ehrenamtlichen hervorragend geklappt“, sagte Mendt. „Als wir wussten, wo die Verstorbenen zu Hause sind, haben wir die Teams informiert.“ Dies sei vor allem in Ostsachsen geschehen. „Das kann man ganz schlicht so beschreiben: Die Polizei überbringt die Nachricht und Notfallseelsorger begleiten die Angehörigen beim Verkraften dieser Nachricht.“ Die Angehörigen würden vorab nicht über den Besuch informiert.

Am Dienstag sind die ersten der rund zwei Dutzend Verletzten aus Sachsen aus Krankenhäusern in Oberfranken entlassen worden. Noch am Montag hätten sieben Patienten die Heimreise angetreten, zumeist mit Hilfe von Angehörigen, teilte das Sozialministerium in Dresden mit.

Mit Informationen von dpa

 
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