Als die Polizei in der Nacht zum Montag die Wohnung in der Plattenbausiedlung in Leipzig-Paunsdorf stürmt, muss sie Dschaber al-Bakr nur noch abholen. So, wie man ein gut verschnürtes Paket abholt. Der zeitweise meistgesuchte Terrorverdächtige des Landes kauert auf dem schäbigen Sofa, die Füße mit dem Kabel eines Dreifachsteckers zusammengebunden, die Hände hinter dem Rücken gefesselt. Ein Landsmann hält den Übernachtungsgast im Schwitzkasten, irgendjemand macht zum Beweis ein Foto.
„Wir sind geschafft, aber überglücklich“, twittert die sächsische Polizei am Montagmorgen um 6.06 Uhr. Dass der 22-Jährige, der einen tödlichen Terroranschlag mit einem Sprengstoffgürtel geplant haben soll, den Sicherheitsbehörden nur anderthalb Tage zuvor in Chemnitz noch entwischt war? Dass es letztlich Syrer waren, die al-Bakr mit bloßen Händen dingfest machten? Und dass die Polizisten auf der Polizeiwache Leipzig Südwest den Flüchtling – allem an Anschein nach – zunächst gar nicht ernst nahmen? Dafür ist in diesem Moment wohl kein Platz.
„Wir konnten nicht zulassen, dass er Deutschen etwas antut.“Mohammed A. hat mit Freunden den Verdächtigen festgehalten
Mohammed A. (36), der al-Bakr gemeinsam mit zwei Freunden in der Wohnung überwältigte, jedenfalls sagt dem Sender RTL, dass sein Anruf bei der Polizei zunächst erfolglos geblieben sei. Daraufhin tauchte er kurz vor Mitternacht mit auf der Wache auf. „Ich habe eine Stunde bei der Polizei gewartet, die wussten nicht, was ich wollte oder sie haben mich nicht verstanden.“ Erst als er den Beamten ein Handyfoto vorlegt, das einen Mann gefesselt in seiner Wohnung zeigt, reagieren sie. Wie die „Bild“-Zeitung berichtet, rückt die Polizei daraufhin allerdings nicht mit Spezialkräften an, sondern mit einem einfachen Einsatzzug. Als sie die Wohnung stürmt, habe ein Syrer auf Dschaber al-Bakr gekniet und ihn festgehalten, heißt es. Mohammed A. sagt: „Wir konnten nicht zulassen, dass er Deutschen etwas antut.“
Von einem „Flüchtlings-Einsatzkommando“ ist am Dienstag plötzlich die Rede, von den „Helden von Leipzig“. Bundeskanzlerin Angela Merkel hat ihnen ihren Dank und ihre Anerkennung ausgesprochen, der Oberbürgermeister der Stadt, Burkhard Jung, „ihr beherztes persönliches Eingreifen“ gelobt. CDU-Generalsekretär Peter Tauber sagt: „Diese Syrer sind für mich auf jeden Fall Helden.“
Unterdessen kommen immer neue Details ans Licht: Die Sicherheitsbehörden gehen inzwischen davon aus, dass al-Bakr Verbindungen zur Terrormiliz Islamischer Staat (IS) hatte. Wie die Zeitung „Die Welt“ berichtet, soll er sich im Sommer mehrere Monate lang in der Türkei aufgehalten haben und Ende August nach Deutschland zurückgekehrt sein. Vergangene Woche machte das Bundesamt für Verfassungsschutz al-Bakr als Schlüsselfigur eines geplanten Anschlages des IS in Deutschland aus, der sich gegen Züge oder den Berliner Flughafen richten sollte. Der 22-Jährige wird von da an rund um die Uhr observiert – und entwischt dennoch.
Dass der Bombenbauer von Chemnitz gefasst wurde, ist aber auch den sozialen Netzwerken zu verdanken. Zwar braucht die sächsische Polizei fast 36 Stunden, um den Fahndungsaufruf für al-Bakr ins Arabische zu übersetzen. Doch von da an wird der Aufruf hunderttausendfach geteilt, gemeinsam mit dem verschwommenen Foto eines Mannes im Kapuzenpulli. Die syrische Gemeinschaft in Deutschland ist gut vernetzt und diskutiert rege, was sich in ihrer neuen Heimat zuträgt. „Diese Gruppen sind sehr wichtig für uns“, erklärt Muhammad Alhafez, ein syrischer Flüchtling, der in Neu-Ulm lebt. Oft gehe es darin um Fragen zum Asylverfahren oder um deutsche Gepflogenheiten. „Und oft sind es auch nur Gerüchte, die da kursieren“, sagt der 28-Jährige, der vor 15 Monaten nach Deutschland kam.
Auch Alhafez hat den Fahndungsaufruf in den sozialen Medien gesehen, so wie viele seiner Landsleute. „Jeder hat ihn geteilt“, sagt er. Etwa über die Facebook-Seite „GermanLifeStyle“, eigentlich ein Comedy-Kanal von drei jungen Syrern, der um die 90.000 Mitglieder hat. „Wir müssen hier als Syrer (...) diejenigen von uns bekämpfen, die den Menschen hier, die uns unterstützen und alle, die hier leben, etwas Schlimmes antun wollen“, steht da am Wochenende zu lesen. Darunter der Fahndungsaufruf für Dschaber al-Bakr inklusive Foto und Telefon-Durchwahl der Polizei Dresden.
Auch die Syrische Gemeinde in Deutschland, eine Art Nachrichtenportal, teilte die Fahndung. Der Syrer Monis Bukhari, der eine wichtige Facebook-Gruppe leitet, zeigt sich am Montag stolz. Genau so sollten sich Syrer in Deutschland verhalten.
Auf welcher Internet-Seite Mohammed A. und seine Freunde den Fahndungsaufruf bemerkten, ist nicht bekannt. Klar ist nur: Die Männer sind über ein Online-Netzwerk syrischer Flüchtlinge auf al-Bakr gestoßen. Dort soll er geschrieben haben, er suche einen Schlafplatz in Leipzig und befinde sich am Hauptbahnhof. „Wir sind dann hingefahren und haben ihn mitgenommen“, berichtet Mohammed A. der „Bild“-Zeitung. Und dass sie danach in der Wohnung eines Freundes Reis mit Lammfleisch gegessen hätten – so, wie es die syrische Gastfreundschaft gebietet. Übernachtet habe al-Bakr bei einem anderen Syrer, wo mehr Platz war.
Tags darauf soll der 22-Jährige nach einem Friseur gefragt haben, offenbar um sein Aussehen zu verändern. Mohammed A. berichtet, er habe ihm den Kopf geschoren. Im Laufe des Tages muss ihm und seinen Freunden dann klar geworden sein, wen sie da beherbergen – als sie auf Facebook Fahndungsaufrufe entdecken. Als sich der mutmaßliche Terrorist am Abend schlafen legt, machen sie ein Foto von ihm und diskutieren mit anderen Syrern im Internet, ob es sich um den Gesuchten handelt. Dann fesseln sie ihn.
Der 22-Jährige hat offenbar noch versucht, sich freizukaufen. „Wir haben ihm gesagt, du kannst uns so viel Geld geben wie du willst, wir lassen dich nicht frei“, sagt Mohammed A. im RTL-Interview, bei dem er nur von hinten gezeigt wurde. Er sei „total wütend“ auf al-Bakr gewesen. „So was akzeptiere ich nicht, gerade hier in Deutschland, dem Land, das uns die Türen geöffnet hat.“
Das ist es, was auch Muhammad Alhafez, den jungen Flüchtling in Neu-Ulm, in diesen Tagen bewegt. Einerseits ist er stolz auf seine Landsleute, die so mutig gehandelt haben, dass so viele Syrer über das Internet bei der Suche helfen konnten. Und vor allem ist er froh, dass der Bombenbauer von Chemnitz gefasst ist. Andererseits macht es ihn wütend, dass Menschen wie al-Bakr nur darauf aus sind, dem Land, das sie nach der Flucht aufgenommen und ihnen ein neues Leben ermöglicht hat, Schaden zufügen wollen. Dass sie auf diese Weise andere Flüchtlinge in Misskredit bringen. „Jedes Mal wenn so etwas passiert“, sagt Alhafez in gutem Deutsch, „haben wir Syrer Angst. Und wir können nichts dagegen tun.“
Auch Ali, neben Mohammed A. einer der Männer, die jetzt als „Helden von Leipzig“ gefeiert wird, scheint es wegen einer möglichen Rache des IS mulmig zumute zu sein. Jedenfalls ist der Syrer, in dessen Wohnung Dschaber al-Bakr gefesselt und der Polizei übergeben wurde, abgetaucht. „Er hat Angst und traut sich deshalb nicht mehr in seine Wohnung“, sagt sein Nachbar Ammar. „Wahrscheinlich ist er bei Freunden untergekommen.“
„Eine solche Tat wird sicherlich vom IS nicht vergessen.“Der Leiter der Leipziger Syrienhilfe, Hassan Zeinel Abidine
Der 26-Jährige geht hoch in den fünften Stock. Er klopft an die dünne Holztür. „Ali, mach auf, ich bin es, Ammar.“ Keine Antwort. Ali bleibt ein Held ohne Gesicht. Ammar sagt, Ali habe keine Angst, dass ihm Dschihadisten die Tür eintreten könnten. Er sorge sich nur um seine Eltern und die Geschwister, die immer noch in der syrischen Stadt Deir as-Saur leben, in einem Gebiet, in dem der IS herrscht.
Auch Ammar hat al-Bakr am Samstag getroffen. Er wartet vor der Haustür auf seinen Nachbarn Ali. Weil es draußen kalt ist, schlägt Ammar ihm vor, bei ihm in der Wohnung zu warten, bei einem Glas Tee. Dass der Unbekannte schon länger in Deutschland ist, dass er auf der Flucht vor der Polizei ist und einen Terroranschlag im Auftrag des IS geplant haben soll, ahnt er zu diesem Zeitpunkt noch nicht. „Er wirkte absolut unauffällig, hatte nur einen Rucksack dabei.“
Von dem, was in den Stunden danach in der Wohnung oberhalb passiert, merkt Ammar nichts. Er paukt deutsche Vokabeln. Als die Polizei kommt, um den gefesselten Terrorverdächtigen abzuholen, schreckt er aus dem Schlaf. Ammar bewundert, was sein Nachbar Ali getan hat. „Er ist ein Held. Doch wenn die Terroristen seine Identität herausfinden, dann werden sie in Syrien seine ganze Familie massakrieren.“
Auch Flüchtlingshelfer sind sich im Klaren darüber, dass diese Tat Racheakte des IS nach sich ziehen könnte. Die Behörden müssten für die Sicherheit der drei Syrer sorgen, mahnt etwa der Leiter der Leipziger Syrienhilfe an, Hassan Zeinel Abidine. „Denn eine solche Tat wird sicherlich vom IS nicht vergessen.“ Mit Informationen von dpa und afp
Wie Dschaber al-Bakr die Polizei in Atem hielt
Wochenlang waren die Geheimdienste und Ermittler dem syrischen Terrorverdächtigen Dschaber al-Bakr auf der Spur, der nun in Leipzig festgenommen wurde. Die wichtigsten Fakten rund um die Suche:
- 19. Februar 2015: Der Syrer reist nach Deutschland ein, wird in München registriert und zur Erstaufnahme in Chemnitz weitergeleitet.
- 9. Juni 2015: Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge gibt dem direkt am 19. Februar gestellten Asylantrag von al-Bakr statt. Der Syrer erhält einen auf drei Jahre befristeten Aufenthaltstitel.
- 10. März 2016: Dschaber al-Bakr zieht nach Eilenburg in Nordsachsen.
- September 2016: Der Bundesnachrichtendienst und das Bundesamt für Verfassungsschutz werden auf den 22-Jährigen aufmerksam. Die Hinweise verdichten sich. Der Syrer recherchiert im Internet über die Herstellung von Sprengsätzen und beschafft – vermutlich mit einem 33-jährigen Komplizen – die Grundstoffe dafür.
- 6. Oktober 2016: Das Bundesamt für Verfassungsschutz macht al-Bakr als Schlüsselfigur eines geplanten Anschlages der Terrormiliz Islamischer Staat (IS) in Deutschland aus. Er soll sich gegen Züge oder Berliner Flughäfen richten. Al-Bakr wird ab sofort rund um die Uhr observiert.
- 7. Oktober 2016: Dschaber al-Bakr will im Ein-Euro-Shop Heißkleber kaufen. Für die Ermittler ist das ein Signal, dass er eine Bombe fertigstellen will. Der Verfassungsschutz benachrichtigt die Polizei in Chemnitz über mutmaßliche terroristische Vorbereitungen in der sächsischen Stadt. Es bestehe der Verdacht, dass ein Sprengstoffgürtel kurz vor der Fertigstellung oder gar einsatzbereit sein könnte.
- 8. Oktober 2016: Die Polizei versucht, al-Bakr in der Wohnung eines Bekannten in Chemnitz festzunehmen. Ein Mann, möglicherweise al-Bakr, verlässt das Haus und flüchtet trotz Warnschuss. Der Syrer wird bundesweit zur Fahndung ausgeschrieben. Die Beamten stellen in der Wohnung 1,5 Kilo TATP-Sprengstoff sicher, der kontrolliert gesprengt wird. Der Mieter der Wohnung, Khalil A., wird als mutmaßlicher Mittäter festgenommen. Zwei weitere Festgenommene kommen wieder frei.
- 9. Oktober 2016: Die Bundesanwaltschaft zieht die Ermittlungen an sich. Die Polizei fahndet weiter bundesweit nach al-Bakr, auch auf Englisch und Arabisch. Der 22-Jährige kommt bis Leipzig. Er sucht unter Landsleuten nach einer Übernachtungsmöglichkeit. Ein Syrer nimmt ihn auf, erkennt ihn aber und holt Freunde. Gemeinsam überwältigen und fesseln sie ihn und übergeben ihn der Polizei.
- 10. Oktober 2016: Die Polizei nimmt den 22-Jährigen am frühen Morgen fest. Ein Gericht erlässt Haftbefehl wegen Verdachts der Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat. Laut Bundesinnenminister Thomas de Maiziere wurde ein großes Attentat verhindert. „Die Vorbereitungen in Chemnitz ähneln nach allem, was wir heute wissen, den Vorbereitungen zu den Anschlägen in Paris und Brüssel.“ (dpa)