Nur wenige Tage, nachdem die Schotten eine Unabhängigkeit mehrheitlich abgelehnt haben, scheint genau das einzutreten, wovor viele Abspaltungsbefürworter gewarnt hatten: Es herrscht Gezeter um das Versprechen der drei großen Westminster-Parteien, dem Regionalparlament weitere Machtbefugnisse zu überlassen. Zwischen der oppositionellen Labour-Partei, den Liberaldemokraten und den konservativen Tories unter Premierminister David Cameron ist ein parteipolitischer Streit darüber entbrannt, wann und wie Schottland mehr Autonomie bekommen soll.
Aus Angst vor einem Verlust des nördlichen Landesteils hatten die Parteivorsitzenden kurz vor dem Referendum mit Zusagen versucht, die Unentschiedenen auf die Seite der Unionisten zu ziehen – mit Erfolg. Doch bereits jetzt haben viele Schotten das Gefühl, verschaukelt worden zu sein. Ministerpräsident Alex Salmond, der noch am Freitag nach der Niederlage seinen Rückzug angekündigt hatte, zeigte sich empört: Die „Nein“-Wähler würden „hinters Licht geführt“. Danny Alexander, der liberaldemokratische Chefsekretär des Schatzamtes, nannte es „zutiefst frustrierend“, dass die Gespräche der vergangenen Tage von dem „glasklaren Bekenntnis aller Parteien“ ablenken, jenen Wandel herbeizuführen, den Schottland gewählt habe.
Labour kritisierte, die Konservativen würden die Zusage an Schottland aus taktischen Gründen an andere Fragen binden. Und damit ihr Versprechen brechen. „Ohne Wenn und Aber“, betonte Oppositionsführer Ed Miliband, sollen die Schotten bekommen, was ihnen zugesagt wurde. Er möchte jedoch die Schottlandangelegenheit nicht mit der „England-Frage“ vermischen.
David Camerons Plan sieht das vor. Seiner Meinung nach sollen unmittelbar mit dem weitreichenden Machttransfer nach Edinburgh auch die anderen Landesteile des Vereinigten Königreichs – England, Wales und Nordirland – mehr Autonomie bekommen. Der Konservative steht wenige Monate vor den Parlamentswahlen 2015 unter Druck. Er hat sein Versprechen an die Schotten gemacht, ohne mit seiner Partei Rücksprache zu halten.
Dieses Vorgehen fällt ihm nun auf die Füße. Insbesondere der rechte Flügel fordert mehr Rechte für englische Abgeordnete. Deshalb lud der Premier gestern einige führende Parteikollegen auf seinen Landsitz Chequers ein, um die „England-Frage“ zu beraten. Laut BBC sei man sich einig, dass es „englische Stimmrechte für englische Gesetze“ benötige, hieß es gestern Abend. Bislang dürfen sowohl schottische als auch walisische und nordirische Parlamentarier über englische Belange entscheiden. Umgekehrt aber haben englische Abgeordnete keine Stimme, wenn es sich um Angelegenheiten handelt, die von den Regionalparlamenten entschieden werden. Cameron will dafür sorgen, dass im britischen Unterhaus künftig schottische Abgeordnete kein Mitspracherecht mehr bei Gesetzen haben, die sich auf England und Wales beziehen.
Kleine Napoleons
Einige Abgeordnete gehen sogar einen Schritt weiter und fordern einen neuen Ersten Minister für England und ein rein englisches Parlament. Die britische „Times“ warnte, „den föderalistischen Flaschengeist freizulassen“ riskiere „das Heraufbeschwören eines Königreichs aus kleinen Napoleons“. Würden sich die Konservativen durchsetzen, hätte vor allem die Labour-Partei ein Problem, die 41 der 59 schottischen Abgeordneten in Westminster stellt. Selbst wenn Oppositionsführer Ed Miliband den Premier im nächsten Jahr ablösen sollte, könnte es sein, dass die Sozialdemokraten trotz Mehrheit im Unterhaus weitgehend handlungsunfähig bei England betreffenden Angelegenheiten sind.
Wie die Debatte auch ausgehen mag, der Streit hat bereits jetzt Folgen: Seit dem Referendum vergangene Woche verzeichnet die Scottish National Party (SNP), die die Unabhängigkeitsbewegung anführte, einen Mitgliederansturm. Knapp 16 000 Menschen sind seit Donnerstag bis gestern Nachmittag der Partei beigetreten, gab die SNP per Twitter bekannt.