Ist nun also der ersehnte Kompromiss im Streit um die französische Rentenreform gelungen, damit nach rund 40 Tagen Streik Zugfahrer, Lehrer und Anwälte wieder die Arbeit aufnehmen? Ist Regierungschef Édouard Philippe eingeknickt? Oder handelt es sich um einen politischen Coup, um die Front der Gewerkschaften zum Bröckeln zu bringen? Einen Brief mit neuen Vorschlägen, den Philippe am Samstag den Gewerkschaften und den Arbeitgebern geschickt hat, legte jeder nach seiner Fasson aus.
Der Premierminister schrieb darin, er werde die schrittweise Erhöhung des „Gleichgewichts-Alters“, ab dem eine volle Rente möglich ist, von 62 auf 64 Jahre bis zum 2027 „vorläufig aussetzen“. Damit, so Philippe, beweise er „den Sozialpartnern mein Vertrauen“. Allerdings müssten diese bei einer Konferenz über die Finanzierung des französischen Rentensystems, dessen Milliarden-Defizit zu wachsen droht, bis Ende April alternative Vorschläge vorbringen. Diese dürften weder zu geringeren Pensionen noch zu höheren Arbeitskosten für die Arbeitgeber führen.
Sollte kein Kompromiss gefunden werden, behält sich die Regierung das Recht vor, ihre Reform über Dekrete umzusetzen. Außerdem rückte Philippe keineswegs von dem Ziel ab, längerfristig das Renteneintrittsalter zu erhöhen – lediglich die Übergangsfristen werden ausgedehnt, so dass noch nicht wie geplant alle Geburtsjahrgänge ab 1960 betroffen sind. Weiterhin sollen die bislang 42 verschiedenen Rentenkassen in ein einheitliches Punktesystem eingehen. Das lehnen unter anderem Beamte wie die Lehrer sowie die Mitarbeiter der Bahn und des Pariser Nahverkehrsbeteibers RATP ab, denn sie würden dadurch ihre Vorteile bei der Berechnung der Pensionsansprüche verlieren: Wurden bei ihnen bislang die letzten sechs Monate herangezogen, sollen es wie in der Privatwirtschaft die letzten 25 Jahre sein. Mehrere Gewerkschaften kündigten daher an, ihren Widerstand fortzuführen.
Die Opposition äußerte sich kritisch. Während die Linken sowie die Rechtsextremen weiterhin die gesamte Reform ablehnen, bemängelten die Konservativen, diese sei nun völlig ausgehöhlt. Tatsächlich ließ sich die Regierung bereits auf mehrere Sonder-Vereinbarungen mit bestimmten Berufsgruppen ein. Am 24. Januar soll der Gesetzesentwurf im Ministerrat vorgestellt, ab 17. Februar im Parlament verhandelt werden. Aus dem Umfeld von Präsident Emmanuel Macron verlautete, er freue sich über einen „konstruktiven und verantwortungsvollen Kompromiss“.
Für diese Woche sind aber bereits neue Streiks und Protesttage geplant. Auch am Samstag gingen landesweit wieder Hunderttausende auf die Straße; in Paris kam es teilweise zu brutalen Auseinandersetzungen mit der Polizei, welche üppig Tränengas einsetzte. Die Stimmung in Frankreich bleibt aufgeheizt und dürfte sich auch durch den neuen Kompromiss, ob er diesen Namen nun verdient oder nicht, kaum entspannen.