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Paris, Brüssel, Nizza - und jetzt Berlin
Wo ist der Täter? Terror, das war bislang Paris, Brüssel, Nizza. Bis am Montagabend ein Lastwagen in einen Weihnachtsmarkt nahe der Gedächtniskirche rast – und der Hauptstadt ihre Unbeschwertheit raubt. Erst recht, da die wichtigste Frage nicht geklärt ist.
GERMANY-ATTACK-MARKET       -  Am Tag nach dem Terror: Das Bild von oben zeigt die Verwüstungen auf dem Weihnachtsmarkt.
Foto: Odd Andersen, afp | Am Tag nach dem Terror: Das Bild von oben zeigt die Verwüstungen auf dem Weihnachtsmarkt.
Rudi Wais
Rudi Wais
 |  aktualisiert: 11.12.2019 10:17 Uhr

Für einen Moment sieht es so aus, als wäre Navid B. der Mann, den Angela Merkel immer gefürchtet hat. Gekommen über die Balkanroute, aufgefallen durch Diebstähle und ein paar andere kleinere Delikte, wieder vom Radar der Behörden verschwunden – und dann plötzlich zum Attentäter geworden, verantwortlich für den Tod von zwölf Menschen. Ein Flüchtling!

Dass es ein Anschlag war, der Berlin am Montagabend in eine Reihe mit leidgeprüften Städten wie Paris, Brüssel, Madrid oder London gestellt hat – daran haben Polizei und Staatsanwaltschaft am Tag danach keinen Zweifel mehr. Aber ist der bereits festgenommene Navid B. tatsächlich der Mörder, der mit einem schweren Sattelschlepper in den Weihnachtsmarkt an der Gedächtniskirche gerast ist?

Der 23-jährige Pakistani, der an Silvester vergangenen Jahres aus Österreich nach Deutschland gekommen ist und seit Februar in Berlin lebt, streitet die Tat ab – und mit der Zeit kommen auch den Ermittlern erste Zweifel, ob eine Funkstreife eine knappe Stunde nach dem Anschlag in der Nähe der Siegessäule tatsächlich den Todesfahrer verhaftet hat.

„Wir haben den Falschen“, zitiert das Online-Portal der Tageszeitung „Die Welt“ am Dienstagnachmittag einen Beamten – was im Umkehrschluss nur bedeuten kann, dass der wahre Attentäter noch auf der Flucht ist, irgendwo im Dschungel der Großstadt und vermutlich auch bewaffnet. Kurz darauf bestätigt der Berliner Generalstaatsanwalt Ralf Rother die Meldung: „Es ist nach meinem Stand unsicher, ob er wirklich der Fahrer war.“

Das soll heißen: Vorsicht ist in der Dreieinhalb-Millionen-Metropole ab sofort erste Bürgerpflicht. „Wir sind besonders wachsam“, twittert die Polizei. „Seien Sie es bitte auch.“ So viele Zeugen das Attentat im Herzen der West-Berliner City beobachtet haben, so widersprüchlich sind ihre Aussagen. Auch auf die Frage, ob es sich um einen Einzeltäter handelt, ob er vielleicht von religiösen Eiferern inspiriert wurde oder eine ganze Gruppe hinter dem Attentat steckt, haben die Behörden bisher keine Antwort.

„Das wissen wir noch nicht abschließend“, räumt Generalbundesanwalt Peter Frank ein, der bereits am Montag die Ermittlungen an sich gezogen hat: Auch er vermutet einen terroristischen Hintergrund hinter den Ereignissen – nach dem Vorbild der Amokfahrt im französischen Nizza, bei der ein Islamist im Juli mehr als 80 Menschen in den Tod riss.

In der Sprache des Juristen hat auch das Berliner Attentat genau diesen „spezifisch staatsgefährdenden“ Charakter, und das auch noch mit einem ausgesprochen symbolischen Ziel: dem Areal zu Füßen der Gedächtniskirche, die im Zweiten Weltkrieg zerstört wurde und seitdem wie ein Mahnmal gegen das Vergessen dort steht. Er jedenfalls, gesteht Frank, auf seine ganz persönliche Befindlichkeit angesprochen, würde heute nicht unbedingt einen Weihnachtsmarkt besuchen. Auch bei ihm sitzt der Schock tief.

Über dem sonst so geschäftigen Breitscheidplatz liegt am Morgen danach eine unwirkliche Stille. Es ist kurz nach sieben Uhr, als ein Abschleppdienst mit der Bergung des polnischen Lastwagens beginnt, der zur tödlichen Waffe wurde. Die Polizei hat das Gelände mit einem Bauzaun und blickdichten weißen Planen großräumig abgeriegelt, der Eingang zur U-Bahn schräg gegenüber ist geschlossen, neben der Treppe sind Kerzen und Blumensträuße niedergelegt – ein stummes Zeichen der Anteilnahme.

Ein Mitarbeiter, der an seinen Arbeitsplatz im Einkaufszentrum auf der anderen Straßenseite eilt, wird von einem Beamten freundlich, aber bestimmt zurückgewiesen: „Das ist ein Tatort.“ Auf der Beifahrerseite des dunklen Lasters vom Typ Scania hängt ein Stück Tannenschmuck, mitgerissen offenbar in dem Moment, als der Sattelschlepper in den schmalen Zaun kracht, der den bei Einheimischen wie Touristen beliebten Weihnachtsmarkt von der stark befahrenen Budapester Straße trennt.

Wie genau der Attentäter das schwere Fahrzeug unter seine Kontrolle gebracht hat, ist noch unklar, erst allmählich verdichten sich die Indizien zu einem gespenstischen Bild. Danach hat der große Unbekannte den polnischen Kraftfahrer möglicherweise erschossen. Ariel Zurawski, der Eigentümer der Spedition, hat jedenfalls schon früh ein mulmiges Gefühl. Seit 16 Uhr, sagt er noch am Montagabend in einem Interview, habe er keinen Kontakt mehr zu seinem Fahrer gehabt, der zugleich sein Cousin ist und gerade eine Fuhre Baustahl aus Italien nach Berlin gefahren hat. Dass er ein Mittäter sein könnte? Undenkbar für seine Familie. „Ich kenne ihn seit meiner Kindheit“, beteuert Zurawski. „Ich bürge für ihn. Ihm muss etwas angetan worden sein.“

Später wird Innenminister Thomas de Maiziere berichten, der Mann auf dem Beifahrersitz sei Pole und habe eine Schusswunde gehabt. Ob er schon tot ist, als der Attentäter seine Amokfahrt startet, oder ob er erst auf dem Breitscheidplatz stirbt? Nichts ist wirklich sicher an diesem turbulenten Tag, nichts ausgeschlossen.

Einige Passanten wollen in der Hektik des Abends einen Schuss gehört haben, Gerüchte über mehrere Messerstiche machen die Runde, mit denen der Fahrer des Trucks außer Gefecht gesetzt worden sein soll. Auch über die weiteren Todesopfer ist nicht viel bekannt. Bisher seien erst wenige identifiziert, sagt de Maiziere und zieht eine erschütternde Bilanz: zwölf Tote, den Mann aus Polen eingeschlossen, 48 Verletzte, davon 18 schwer. Und ja, die Pistole, mit der auf diesen Mann geschossen wurde – die hat auch noch niemand gefunden. Dem Vernehmen nach soll unter anderem eine israelische Touristin unter den Toten sein, sicher identifiziert aber sind bis Redaktionsschluss dieser Ausgabe erst sechs Opfer – allesamt Deutsche.

So wird aus einem Fall, der nach der Festnahme von Navid D. schon wie gelöst aussah, im Lauf eines Tages ein immer verworreneres Knäuel aus Informationen, Gerüchten und Spekulationen. Eine groß angelegte Polizeiaktion im Morgengrauen, als 200 Beamte eine Flüchtlingsunterkunft in einem Hangar des früheren Flughafens Tempelhof stürmen, alarmiert zwar die Hauptstadtpresse, bringt aber mit Ausnahme eines beschlagnahmten Mobiltelefones wenig Greifbares. Dem Vernehmen nach ist Navid B.

dort untergebracht. Aber was, wenn er gar nicht der Attentäter ist? Bis zum Abend wollen Polizei und Staatsanwaltschaft noch nicht einmal das Offensichtliche bestätigen, nämlich dass es sich bei dem Toten in der Fahrerkabine um den Cousin des Spediteurs handelt. Obwohl dessen Sattelzug eigentlich bis zu seiner Entladung am Dienstag an der Niederlassung des Konzerns Thyssen-Krupp am Berliner Westhafen hätte stehen bleiben sollen, fallen dem Fuhrunternehmen bei der Überprüfung der GPS-Daten drei Versuche auf, die Zugmaschine zu starten; allerdings würgt der Mann am Steuer dabei den Motor ab. Um 19.34 Uhr fährt er dann los – mit dem Breitscheidplatz als Ziel, wo der Truck eine halbe Stunde später ankommt. „Es ist, als hätte jemand geübt, ihn zu fahren“, sagt ein Mitarbeiter der Spedition. Inzwischen überprüft die Polizei die Daten.

Berlin – das ist wenige Tage vor Weihnachten eine Stadt unter Schock, entsetzt und gelähmt zugleich. „Wir sind fassungslos“, sagt der Regierende Bürgermeister Michael Müller. Am Abend leuchtet das Brandenburger Tor, das bei ähnlichen Ereignissen aus Solidarität mit den Opfern schon in den Farben Frankreichs oder der Türkei angestrahlt wurde, in denen der deutschen Flagge: Schwarz, Rot, Gold. Vor den übrigen Weihnachtsmärkten der Stadt lässt Innensenator Andreas Geisel in den nächsten Tagen Beamte mit Schutzwesten und Maschinenpistolen aufmarschieren und Barrieren aus Beton aufbauen, um einen neuerlichen Anschlag nach dem gleichen Muster zu verhindern. Auch das Spiel von Hertha BSC gegen Darmstadt 98 am Mittwochabend wird gesichert wie ein Hochrisikospiel, vergleichbar nur mit den Maßnahmen nach dem Anschlag vor dem Stade de France in Paris im November vergangenen Jahres.

„Robuste Präsenz“ nennen die Einsatzleiter der Polizei das. Der Tag, an dem der Terror Deutschland so hart getroffen hat, hat nicht nur am Breitscheidplatz eine Spur der Verwüstung hinterlassen, er raubt der Stadt auch ihre Unbeschwertheit. Schweigend sitzen die Menschen am Morgen in den U- und S-Bahnen, die Straßen rings um den Tatort sind gesperrt und gespenstisch leer, während immer mehr Menschen zu Fuß auf den Breitscheidplatz kommen, um ihr Mitgefühl mit den Opfern und ihren Angehörigen zu zeigen. Auch auf dem einzigen Weihnachtsmarkt, der an diesem Dienstag in Berlin geöffnet hat, bleiben etliche Buden geschlossen. Dafür laufen Polizisten über den Platz, und an den Eingängen werden die Taschen der wenigen Besucher, die hier im In-Viertel Prenzlauer Berg noch in Adventsstimmung sind, kontrolliert.

Was gibt es für Erklärungsversuche, warum ausgerechnet der Weihnachtsmarkt am Breitscheidplatz als Anschlagsziel ausgewählt wurde. Er liegt mitten in der deutschen Hauptstadt, daneben die Gedächtniskirche – ein Mahnmal für den Frieden –, und in Sichtweite das Luxuskaufhaus „KaDeWe“.

Ein Großteil der zahlreichen Berlin-Touristen aus aller Welt hat diese Ecke der Stadt auf dem Reiseplan. Die Botschaft der Täter scheint zu sein: „Wir können Euch jederzeit an jedem Ort treffen, sogar im Zentrum Eurer Hauptstadt, selbst wenn Ihr besonders wachsam seid.“ In diesem Sinne wird die Tat laut Holger Münch, Chef des Bundeskriminalamtes, auch in dschihadistischen Internetforen gefeiert. Ein konkretes Bekennervideo aber ist bislang nicht aufgetaucht.

Am Nachmittag lässt Angela Merkel sich zur Gedächtniskirche fahren und legt mit Außenminister Frank-Walter Steinmeier, de Maiziere und dem Regierenden Bürgermeister Blumen nieder, ehe sie sich in ein Kondolenzbuch einschreibt. Auf einem der vielen Schilder zwischen all den Kerzen dort steht nur ein Wort: „Warum.“ Mitarbeit Junginger

 
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