Fast drei Jahrzehnte nach dem Mauerfall denken viele noch in Ost und West. Der Historiker Klaus Schroeder über eine Geschichte von Missverständnissen und falschen Erwartungen, die zum Nährboden für Populisten wurden.
Klaus Schroeder: Ja, die Deutschen in Ost und West, jedenfalls beträchtliche Minderheiten, sind sich nicht einig, wer sie eigentlich sind und was sie überhaupt wollen. Hinzu kommt der hohe Anteil an Eingewanderten und Zugewanderten, die gerade im Osten mehr Befürchtungen erwecken als im Westen. Diese Gemengelage führt dazu, dass Ost-West-Probleme hochkommen, die zwei Ursachen haben: zum einen die unterschiedliche Sozialisation bei den älteren Menschen, die ihre eigenen Erfahrungen an ihre Kinder und Enkel weitergeben. Und zum anderen die starken sozialen Verwerfungen im Transformationsprozess der ostdeutschen Wirtschaft nach der Wende.
Schroeder: Die Westdeutschen haben keine Vorstellungen davon, wie stark die Verwerfungen waren, die die Ostdeutschen nach 1990 erlebt haben. Sehr viele haben ihren Job verloren; wenn sie einen neuen gefunden haben, dann in einem ganz anderen Bereich; nichts hatte Bestand. Es gab große Probleme, aber viele, auch ich, waren der Ansicht, nach 20, 30 Jahren seien diese beseitigt. Sind sie aber nicht.
Schroeder: Ost und West sind sozial unterschiedlich geschichtet. Die DDR war eine kulturell stark verproletarisierte Gesellschaft. Es herrschte die von oben verordnete Diktatur des Proletariats. Das wissen viele im Westen nicht, verstehen es auch nicht, denn die Bundesrepublik hat sich völlig anders entwickelt. Das beklagen wiederum die Ostdeutschen: Ihr habt kein Interesse an uns, ihr interessiert euch mehr für die Ausländer als für uns. Sie fühlen sich missverstanden. Sie haben von vielen Dingen eine andere Vorstellung, bringen das auch direkt und unverblümt zum Ausdruck. Und sie haben andere Erwartungen an die Demokratie.
Schroeder: Die Erwartung, dass sie gefragt werden, dass sie auf gleicher Augenhöhe betrachtet werden, dass man nicht auf sie herabblickt, dass bei politischen Entscheidungen vorher diskutiert wird und Beschlüsse nicht von oben verordnet werden. Das haben sie in der DDR erlebt, und sie haben das Gefühl, dass die jetzige Regierung das auch macht. Das verhängnisvolle Wort von Angela Merkel von der Alternativlosigkeit ihrer Politik hatte eine verheerende Wirkung in Ostdeutschland.
Schroeder: Der Wunsch nach Freiheit fiel zusammen mit dem Wunsch nach Wohlstand. Das ist schwer zu trennen, aber ich würde sagen: Der Wohlstandswunsch hat den Freiheitswunsch überlagert.
Schroeder: Die Messlatte ist der Westen. Wenn Ostdeutsche hören, dass Westdeutsche noch immer zehn oder 15 Prozent mehr verdienen, dann löst das Unzufriedenheit aus. Dabei wird vergessen, dass auch im Westen die Einkommensunterschiede zum Teil erheblich sind. Aber das wird nicht thematisiert. Die DDR war ein zentralistisches System, wo im ganzen Land gleiche Bedingungen herrschten, gleiche Löhne, gleiche Leistungen. Daher haben die Menschen im Osten bis heute nicht akzeptiert, dass es beim Wohlstand regionale Unterschiede gibt.
Schroeder: Eigentlich müssten die Ostdeutschen Verständnis für diese Menschen haben, sie haben ja selber erlebt, wie es ist, wenn man in ein kulturell anderes Land kommt und völlig neu anfangen muss. Aber die Ostdeutschen sehen sie als Konkurrenz. Und was in Ostdeutschland erschwerend hinzukommt als Ergebnis linker Propaganda: der Sozialneid. Wenn es um Ausländer geht, hört man immer wieder: Die bekommen alles, wir müssen uns dagegen abschuften und bekommen am Ende eine Rente, die vorne und hinten nicht reicht.
Schroeder: Die Politik muss viel stärker den Diskurs zulassen, statt von oben die Dinge zu verordnen. Die Unterschiede sind da und sind zu akzeptieren, wenn sich die Kritik daran auf dem Boden des Rechtsstaates und der Beachtung der freiheitlich-demokratischen Grundordnung abspielt. Das gilt auch für die Migranten. Die Gesetze gelten für alle, die Religion steht nicht über dem Staat. Ansonsten herrscht Meinungsfreiheit. Vor allem aber muss die Politik lernen, Fehler zuzugeben. Bei Frau Merkel vermisse ich ein klares Wort, dass ihre Flüchtlingspolitik falsch war. Das ändert nichts daran, dass man das Asylrecht gewährt und sich von humanitären Gedanken leiten lässt. Aber was 2015 geschehen ist, war ein Fehler, daran werden wir noch in Jahrzehnten knabbern. Die Menschen wollen die Wahrheit hören: Es sind viele ins Land gekommen, nicht alle wollten wir. Aber damit müssen wir jetzt klarkommen.