Das neue und das alte Rio de Janeiro trennt ein klappriger, grauer Bauzaun. Auf der einen Seite kämpft ein halbes Dutzend Bulldozer mit der widerspenstigen Erde, auf der anderen malen Bewohner der Siedlung „Vila Autodromo“ kämpferische Parolen auf die Begrenzung. Von den 500 Familien, die einst in der kleinen Favela wohnten, hielten nur 20 dem Druck der Stadtverwaltung stand.
Sie weigerten sich trotz Polizeiknüppeln und wüsten Drohungen, ihre Heimat zu verlassen. „Wir haben gewonnen“, sagt Maria da Penha, die zu den letzten verbliebenen Bewohnern des Dorfes gehört. „Auch wenn es mich traurig macht, dass nur so wenige Familien bleiben konnten.“ Die Vila Autodromo liegt strategisch genau zwischen Autobahnen und dem olympischen Park – und stand im Weg. Irgendwann hat Rios Bürgermeister Eduardo Paes erkannt, dass es aussichtslos ist, auf eine Umsiedlung aller Einwohner zu pochen. Nun erhalten die Standhaften Ersatzhäuser, an der gleichen Stelle. Bis Ende Juli sollen sie stehen. „Der Bürgermeister wird es nicht wagen, vor den Augen der Weltöffentlichkeit sein Wort nicht zu halten“, glaubt Maria da Penha. Ihr Gesicht ist das bekannteste des Widerstandes. Ihre Geschichte kennt jeder Carioca, wie die Einwohner Rio de Janeiros genannt werden.
Der Fall beweist, wie schwer sich die Millionenmetropole unter dem Zuckerhut mit der Verantwortung tut, das größte Sportfest der Welt auszurichten. Als Brasilien vor gut sieben Jahren den Zuschlag bekam, herrschte Euphorie zwischen Brasília und Sao Paulo. Der Ölpreis war hoch, vor der Küste des Landes wurden riesige Mengen Erdöl und Erdgas gefunden. „Das ist unser Reisepass in die Zukunft“, schwärmte der damalige Präsident Lula da Silva, der sowohl die Fußball-Weltmeisterschaft als auch Olympia ins Land holte. Brasilien wollte in den Kreis der großen Industriestaaten aufrücken. Wollte eine neue Regionalmacht werden, ohne die in Lateinamerika nichts, mit der aber alles möglich sein sollte.
Die Gegenwart sieht anders aus. „Ich habe Brasilien in all den Jahren noch nie so hoffnungslos erlebt“, sagt der deutsche Franziskaner-Pater Stephan Ottenbreit. Er arbeitet seit Mitte der 1960er Jahre im Land, sein Fazit fällt nüchtern aus: „Es fehlt an Visionen.“ Der Ölpreis ist abgestürzt und mit ihm der Traum von einem neuen modernen Brasilien geplatzt. Der Staat kämpft mit der tiefsten Rezession seit den 1930er Jahren. Die Arbeitslosigkeit ist hoch, die Inflation frisst die Gehälter auf.
Und die Politik ist von einem jahrelangen Streit gelähmt, der in das Amtsenthebungsverfahren gegen Präsidentin Dilma Rousseff mündete, unter anderem wegen angeblicher Tricksereien beim Staatshaushalt. Jetzt ist sie für ein halbes Jahr suspendiert. Nicht Rousseff, sondern ihr Widersacher, der bisherige Vizepräsident Michel Temer, wird also am 5. August die Spiele eröffnen. Der Übergangspräsident hat versprochen, dem Land wieder „Glaubwürdigkeit“ zu verschaffen und „Brasilien zu vereinen“. Durch die Rochaden bekommt das Gastgeberland auch den dritten Sportminister in diesem Jahr.
Doch nicht nur die regierende Arbeiterpartei PT ist in einen gigantischen Korruptionsskandal um den halbstaatlichen Ölkonzern Petrobras verwickelt, sondern auch die Opposition. Gegen sage und schreibe 60 Prozent der 594 Abgeordneten und Senatoren laufen derzeit strafrechtliche Ermittlungen. Und es ist keine politische Kraft in Sicht, die unbelastet mit frischen Ideen für Hoffnung sorgen könnte. Viele sprechen schon von der schwersten Krise der Demokratie seit Ende der Militärdiktatur 1985.
All das drückt auf die Stimmung in Rio de Janeiro. Die Stadt ächzt unter den Aufgaben, die sie sich selbst gestellt hat. Ob die neue U-Bahn-Linie 4 noch rechtzeitig fertig wird, ist zweifelhaft. Ohne sie droht ein Verkehrschaos, denn sie verbindet den Süden der Stadt und damit die Hotels und Touristenmassen mit dem olympischen Viertel in Barra. Das Konzept der Spiele mit vier Austragungspunkten im ganzen Großraum geht nur auf, wenn auch die Verkehrsstränge funktionieren.
Dann ist da noch das Problem mit dem Zika-Virus, das schwere Schädelfehlbildungen bei Babys auslösen kann. Die Weltgesundheitsorganisation hat im Februar den globalen Notstand ausgerufen und warnt Schwangere weiter vor Reisen nach Brasilien. Mehr als 1100 bestätigte Fälle sind dort bislang registriert. Zwar ist vor allem der Nordosten betroffen und weniger Rio. Zudem sollen die Moskitos, die das Virus übertragen, im August und damit im südamerikanischen Winter weit weniger aktiv sein. Gelöst ist das Problem aber noch lange nicht. Schon allein am schleppenden Ticketverkauf ist abzulesen, dass viele Touristen das Land meiden.
Besonders enttäuscht sind viele Cariocas, dass es mit der versprochenen Säuberung der malerischen, vom Zuckerhut eingerahmten Guanabara-Bucht nichts wird. Gerade wurden neue Müllteppiche entdeckt, die im Wasser schwimmen. Hier soll im August um olympische Medaillen gesegelt werden. Der Biologe und Umweltaktivist Carlos Bittencourt warnt davor: „Ich halte das für gefährlich.“ Alle chemischen Tests fielen bisher katastrophal aus. Man sollte nicht ins Wasser fallen, warnen Experten.
Bittencourt steht am Ufer und verweist auf die großen Widersprüche, die Olympia mit sich bringt. „Wir stecken Millionen in ein neues Zukunftsmuseum, aber vergessen unsere Umwelt.“ Mit Reinigungsbooten will Rios Bürgermeisteramt zumindest den sichtbaren Müll aus dem Wasser fischen. „Doch das Gefährliche sind die multiresistenten Keime, die Bakterien, die man nicht sehen kann“, warnt Bittencourt, der sich in der Bürgerbewegung „Bahia Vive“ (Lebendige Bucht) engagiert. Drüben an der Lagune Rodrigo de Freitas, auf die die Cristo-Statue blickt, sieht es nicht besser aus. Wo sich bald die Ruderer und Kanuten messen, kommt es immer wieder zu massivem Fischsterben. Gerade haben sie binnen nur einer Woche 37 Tonnen herausgezogen.
Lina, 16, hat ganz andere Sorgen. Hätte sie die Möglichkeit, Thomas Bach, den deutschen Präsidenten des Internationalen Olympischen Komitees (IOC), in ihre Favela einzuladen, würde sie ihn in einen Bus setzen. „Damit er selbst einmal sieht, wie es ist, aus dem Bus gezogen zu werden, nur weil du arm oder dunkel aussiehst.“ Seit ein paar Monaten gibt es diese drastischen Polizeimaßnahmen. Damit wollen die Behörden die Zahl der Überfälle im reichen Süden der Stadt reduzieren. Die Strände Copacabana, Leblon und Ipanema sollen geschützt werden vor den Jugendbanden aus dem armen Norden. Doch oft trifft es Unschuldige.
Lina gehört zu einer Gruppe ehemaliger Straßenkinder und Favela-Bewohner, die sich in der Zirkusschule „Se Essa Rua“ engagieren. In ihrem Stadtteil hat gerade eine Gruppe deutscher Hilfswerke mit dem Deutschen Olympischen Sportbund und dem Deutschen Behindertensportverband die Olympia-Kampagne „Rio bewegt. Uns.“ eröffnet. Lina und ihre Mitstreiter der Akrobatengruppe „Malongas“ durften ihre Kunststücke vorführen. Jetzt steht sie deutschen Besuchern Rede und Antwort: „Ich hoffe, dass sich die Stadt zum Positiven verändert.
Aber ich hätte mir auch gewünscht, dass das Geld gerechter verteilt worden wäre. Mehr Straßen, mehr Schulen.“ Mit der Kampagne will das Aktionsbündnis für mehr Chancengleichheit in Rio werben. Wie viel davon übrig bleibt, wenn der Medienfokus nach Olympia nicht mehr auf Brasilien liegt, bleibt abzuwarten.
Und da schließt sich der Kreis zum Öl. Auch über der kleinen Zirkusschule schwebt das Damoklesschwert der Schließung, denn einer der wichtigsten Sponsoren ist der Ölkonzern Petrobras. Der aber steckt wegen des Korruptionsskandals und des Ölpreisverfalls selbst in riesigen Schwierigkeiten und ist heute eines der am höchsten verschuldeten Unternehmen der Welt.
Trotz allem sollen die Spiele ein Wendepunkt in der brasilianischen Depression werden. Es gibt ja auch ein paar Dinge, die funktionieren. Anders als in Athen 2004 sind nicht die Sportstätten das Sorgenkind. Nur das Radstadion ist etwas in Verzug, wird aber rechtzeitig fertig. Das oberste Gebot lautet: kostenbewusste Spiele. Daher gibt es auch kein neues Olympiastadion, Eröffnung und Schlussfeier finden im Fußballtempel Maracan statt. Während immer mehr Einzelheiten über Korruption rund um die Fußball-WM 2014 herauskommen, ist Olympia selbst bislang skandalarm. Selbst Nichtregierungsorganisationen bescheinigen den Planern hohe Transparenz. MIT MATERIAL VON DPA