Der Lärm der Trillerpfeifen war ohrenbetäubend. „Neuwahlen. Neuwahlen“, skandierten mehr als fünftausend Demonstranten am Samstag auf dem Wiener Ballhausplatz. Die Sonne strahlte vom Himmel. Von Westen blies der in Wien so typische Puszta-Wind und so manche junge Familie war mit Kind und Hund in den Volksgarten gezogen. Sie wollten unter dem Fenster von Bundeskanzler Sebastian Kurz das dramatische Ende der türkisblauen Koalition miterleben.
Jubel brandete auf, als um 12:25 Uhr Vizekanzler Heinz Christian Strache von der Freiheitlichen Partei (FPÖ) seinen Rücktritt erklärte. Die Menschen verfolgten die TV-Übertragung auf dem Handy. Sie sahen, wie Strache seine Frau Philippa mit Tränen in den Augen für sein „alkoholbedingtes Macho-Gehabe“ um Verzeihung bat. Während des sechsstündigen Essens mit der angeblichen Nichte eines russischen Oligarchen im Juli 2017 habe er sich „dumm“ und „prahlerisch wie ein Teenager“ verhalten. Jetzt trete er zurück, weil er niemandem einen Vorwand dafür liefern wolle, die „Regierung zu Fall zu bringen“.
„Der Strache wurde gestern in einem Video besoffen gezeigt“, erklärt ein demonstrierender Vater seiner vielleicht achtjährigen Tochter auf dem Ballhausplatz. „Ich bin fast gestorben, so peinlich war das.“ Eine ältere Dame mit eleganter Frisur meint: „Man hat es ja immer gewusst. Aber wenn Beweise für das unanständige Benehmen gezeigt werden, ist man trotzdem schockiert. Solche Leute haben in unsrer Regierung nichts zu suchen.“
Dieser Ansicht war auch Kanzler Sebastian Kurz. Doch er ließ sein Volk lange schmoren, bis er mit den Worten „Genug ist genug“ die ersehnten Neuwahlen ankündigte. Es dürfte ihm nicht leicht gefallen sein. Denn mit Neuwahlen beendet er sein türkisblaues Projekt. Er hatte den Ehrgeiz, die rechtspopulistische, eingeschworene Oppositionspartei FPÖ in der Koalition in den Griff zu bekommen. Doch schon nach 516 Tagen musste er einsehen, dass er die Stange zu hoch gelegt hatte. Vorgezogene Neuwahlen bedeuten so auch das Eingeständnis seines Scheiterns. Deshalb hatte er am Freitagabend noch verhandelt.
Er wollte die Koalition zunächst retten. Auch wenn Strache ihm persönlich in bisher nicht sehr bekannten Teilen des Video-Mitschnittes „Sexorgien“ in „Drogenhinterzimmern“ unterstellt. Strache sollte gehen und mit ihm der umstrittene Innenminister und FPÖ-Chefideologe Herbert Kickl. Denn der zeichnet ebenfalls für viele Skandale verantwortlich. Die anderen Minister hätten bleiben können. Aber ihren Innenminister Kickl wollte die FPÖ nicht opfern. Er ist beliebt an der FPÖ-Basis. Seine Ablösung hätte zur Spaltung führen können.
Während also Kurz das Für und Wider von Neuwahlen erwog und mit den ÖVP-Landespolitikern sowie CDU-Chefin Annegret Kramp-Karrenbauer und dem holländischen Regierungschef Mark Rutte telefonierte, wartete das Volk vor den Bildschirmen. Am Rande der Demonstration konnten Oppositionspolitiker ihre Sicht des "#Ibizagates" in den Live-Übertragungen präsentieren. „Ich war auf einem Geburtstag eingeladen“, erzählt ein Lehrer am Sonntagmittag. „Wir haben alle auf Kurz gewartet. Es hat schon sehr lange gedauert, bis er sich erklärt hat. Die Demonstrationen werden ja überallhin übertragen. Welchen Eindruck macht das international?“
Die Frage des Ansehens im Ausland beschäftigt auch den österreichischen Bundespräsident Alexander van der Bellen. Um 20.35 Uhr trat er nach Sebastian Kurz vor die Kameras. Das heimlich gedrehte Video zeichne ein „verstörendes Sittenbild“ und werde Österreich nicht gerecht, sagte er. „Es sind beschämende Bilder und niemand soll sich für Österreich schämen müssen“, fuhr er fort. „So sind wir nicht. So ist Österreich einfach nicht.“ Das Verhalten Straches sei eine „ungeheure Respektlosigkeit“ den Bürgern gegenüber. Van der Bellen lobte die Rolle der Journalisten als Vierte Macht im Staat. Die Medien hätten „ihre Aufgabe voll wahrgenommen“. Zwei deutsche Zeitungen, „Spiegel“ und „Süddeutsche Zeitung“, hatten das Video veröffentlicht.
Ein paar Tage vorher zeigten sie es der vom Ruin bedrohten Wiener Wochenzeitung „Falter“, damit sie es vorab kommentieren konnte. Österreichische Journalisten sind unter der Regierung Kurz/Strache immer stärker unter Druck geraten. Ihnen war das Video nicht angeboten worden. Damit wurde ihnen erspart, die Entscheidung über die Veröffentlichung zu treffen. Sie wäre möglicherweise negativ ausgefallen. Denn in Österreich nehmen Journalisten traditionell Rücksicht auf die Privatsphäre von Politikern. Jeder weiß alles, aber niemand schreibt darüber, ist die Devise.
Gesehen hatte das Video der ZDF- Satiriker Jan Böhmermann. Dass es existierte, wussten etliche andere Personen, bevor es veröffentlicht wurde. In den vergangenen Wochen gärte die Gerüchteküche. Doch sichere Informationen über seinen Produzenten oder Auftraggeber gibt es nicht. „Spiegel“ und „Süddeutsche“ behaupten wenig glaubwürdig, sie ebenfalls nicht zu kennen. Ein Mittelsmann habe ihnen die USB-Sticks in einem verlassenen Hotel übergeben. Eine eher unwahrscheinlich wirkende Variante, die dazu führt, dass jetzt Spekulationen darüber ins Kraut schießen, wer das – so Strache – „gezielte politische Attentat“ verübte.
Als erster geriet Jan Böhmermann in den Kreis der Verdächtigen. Er beschrieb die Szenerie auf seiner Video Grußbotschaft zur Wiener Romy-Gala schon Mitte April: Er hänge „gerade ziemlich zugekokst und Red Bull betankt mit ein paar FPÖ-Geschäftsfreunden in einer russischen Oligarchenvilla auf Ibiza“ herum – und „verhandle darüber, ob und wie ich die 'Kronen Zeitung' übernehmen kann“, teilte er der österreichischen Prominenz mit. Böhmermanns Manager bestätigt, dass er das heikle Video kannte. Die Inszenierung der Falle trauen ihm jedoch nur wenige zu, obwohl er sich nachweislich stark in Österreich engagiert.
Auch der frühere SPÖ-Politikberater Tal Silberstein wird als möglicher Urheber ins Spiel gebracht. Das Treffen auf Ibiza fand am 24. Juli 2017 statt. Silberstein wurde am 14. August verhaftet. Er hatte mit „dirty campaigning“-Methoden versucht, 2017 die Wahlchancen für den sozialdemokratischen Kanzler Christian Kern gegen Kurz zu verbessern. Es wäre möglich, dass er das Video nach seiner Verhaftung nicht mehr für die Parlamentswahl in Österreich einsetzen konnte. Er hätte den Europawahlkampf nutzen können, so die Theorie.
Strache selbst erwähnte mehrmals einen „deutschen Bekannten“ der Pseudo-Oligarchennichte mit lettischem Paß. Der Ex-FPÖ-Chef glaubt, ein Opfer von Geheimdiensten zu sein. Das ist wohlfeil; denn je stärker der Gegner, desto schlechter die Chance, ihm zu entkommen. Vertreter der Geheimdienst-Theorie argumentieren, dass Profis am Werk gewesen sein müssen. Mit sechs Kameras und Schauspielern zu arbeiten sei teuer. Westliche Geheimdienste hätten das Ziel haben können, mit der Aktion die Verbindungen der FPÖ zu Russland zu beschädigen. Straches Begleiter in der Oligarchen-Finca war Johann Gudenus, der Fraktionschef der FPÖ im Parlament. Mit Fünfzehn war er in der Schülerverbindung „Vandalia“ Straches „Leibfuchs“. Straches Wunschnachfolger stammt aus einer deutsch-nationalen Adelsfamilie, hat in Russland studiert und pflegt die Kontakte zur Partei von Wladimir Putin „Einiges Russland“. Und er fiel als Erster auf die Schauspielerin herein.
Für westliche Geheimdienste, so die Theorie, sei die FPÖ zum Sicherheitsrisiko geworden, weil sie über das Innenministerium in Wien Zugriff auf internationale vertrauliche Informationen hat. Deshalb hätte ein westlicher Geheimdienst möglicherweise versucht, Strache und Gudenus zu kompromittieren. Ein westlicher Geheimdienstexperte nennt diese Theorie gegenüber Medien einfach „lächerlich“. Er fragt, warum das Video gerade jetzt veröffentlicht wurde. Er selbst tippe darauf, dass der Urheber das Ende der Koalition nahen sah und deshalb befürchtete, das Material könnte wertlos werden. Geheimdienste gingen jedenfalls anders vor, auch wenn sie gelegentlich Lockvögel nutzten.
Häufig ist zu hören, dass Geld das Motiv dafür war, Strache und Gudenus hereinzulegen. Eine simple Erpressung der beiden notorischen Ibiza-Urlauber. Das werden möglicherweise jetzt aufgenommene Untersuchungen zeigen. Das Vertrauen der Österreicher in die Politik insgesamt wird weiter gesunken sein. Doch die Meinungsforscher geben Sebastian Kurz gute Noten für seine Entscheidung. Das Leben des 32-Jährigen wird jedoch jetzt nicht leichter. Stellt sich doch die Frage nach einem Partner für künftige Regierungen. Nur mit hohen Zuwächsen für die ÖVP kann er hier wählerisch sein und muss nicht wieder zur verhassten SPÖ zurückkehren.
Die FPÖ muss sich nach diesem Supergau erst einmal ganz neu aufstellen. Es wird ihr schwer fallen, ihre Wähler zur Europawahl an die Urnen zu bringen. Bis zur Neuwahl sind es dann noch vier Monate, in denen sich Strache vermutlich zurückhalten wird. Doch Beobachter gehen davon aus, dass er ein Comeback vorbereitet.