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Nobelkomitee würdigt Weg des Konsenses
Friedensnobelpreis: Tunesien hat als einziges Land des Arabischen Frühlings die Demokratisierung geschafft. Doch die Gesellschaft leidet: Terrorangst und kriselnde Wirtschaft rauben den Menschen die Hoffnung. Die Auszeichnung soll Mut machen.
Tunisia election reactions       -  Gelungene Demokratisierung: Anhänger der tunesischen Partei Ennahda feierten 2011 den Wahlerfolg.
Foto: Zacarias Garcia, afp | Gelungene Demokratisierung: Anhänger der tunesischen Partei Ennahda feierten 2011 den Wahlerfolg.
Martin Gehlen
 |  aktualisiert: 23.12.2015 12:09 Uhr

Gewerkschaftschef Houcine Abassi kann seine Freude kaum fassen. „Ich bin überwältigt“, jubelte der 68-Jährige und widmete spontan sein Viertel des diesjährigen Friedensnobelpreises den „Märtyrern für ein demokratisches Tunesien“. Dieser Einsatz der Jugend habe dem Land die Chance eröffnet, die Diktatur abzuschütteln, erklärte der charismatische Arbeiterführer, der zu den Schlüsselfiguren der tunesischen Zivilgesellschaft gehört. Die Entscheidung von Oslo kröne „die mehr als zweijährigen Anstrengungen des Quartetts, als unser Land an allen Fronten in Gefahr war“.

Denn dieses „Quartett für den nationalen Dialog“, dem neben dem tunesischen Gewerkschaftsverband (UGTT) auch der tunesische Arbeitgeberverband (UTICA), die tunesische Menschenrechtsliga (LTDH) sowie die Anwaltskammer angehören, hat nach dem Urteil des Nobelkomitees „einen entscheidenden Beitrag zum Entstehen einer pluralistischen Demokratie in Tunesien nach der Jasminrevolution geleistet“. Die Ehrung sei eine „Ermutigung für das tunesische Volk und eine Inspiration für andere, besonders in dem aufgewühlten Nahen Osten“, hieß es in der Begründung.

Die Jury hoffe, der Preis werde helfen, „die tunesische Demokratie zu schützen“. Vor vier Jahren war mit der Jemenitin Tawakkol Karman schon einmal eine Aktivistin des Arabischen Frühlings mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet worden. Ihrer Heimat droht heute durch einen von Saudi-Arabien vom Zaun gebrochenen Krieg ein ähnliches Schicksal wie Syrien.

Und so kann das kleine Tunesien mit seinen elf Millionen Bürgern den globalen Zuspruch durch den Nobelpreis 2015 gut gebrauchen. Der Mittelmeeranrainer ist die Wiege des Arabischen Frühlings und inzwischen das einzige Revolutionsland, welches bisher den Absturz in Anarchie und Bürgerkrieg wie Libyen, Syrien und Jemen oder den Rückfall in ein autoritäres Staatsregime wie Ägypten vermeiden konnte.

Grund dafür sind vor allem die starke Zivilgesellschaft sowie die mächtigen Gewerkschaften, die seit dem Sturz des Diktators Zine el-Abidine Ben Ali mit ihrem Quartett eine Plattform für einen nationalen Dialog schufen, der bei der Staatskrise Ende 2013 alle Kontrahenten an einen Tisch und zu einem Megakompromiss zwang. Nach den beiden spektakulären Morden an den Linkspolitikern Chokri Belaid und Mohamed Brahmi stand die Zukunft Tunesiens damals auf Messers Schneide.

Aufgebrachte Bürger demonstrierten in den Straßen, Gewalttaten und Übergriffe häuften sich, die ganze Nation drohte, aus dem Ruder zu laufen.

Postrevolutionäre Verfassung

Auf Vermittlung des Quartetts verhandelten das islamistische und säkulare Lager zunächst alle strittigen Probleme bei der post-revolutionären Verfassung, so dass die total gelähmte Verfassungsgebende Versammlung das neue Grundgesetz schließlich am 26. Januar 2014 mit überwältigender Mehrheit verabschieden konnte. Parallel dazu erklärte sich die seit 2011 amtierende Interimsregierung unter Führung der islamistischen Ennahda bereit, den Weg für ein Kabinett aus Technokraten freizumachen. Die neue Regierung organisierte in der zweiten Hälfte 2014 dann die ersten regulären und freien Parlaments- und Präsidentenwahlen seit der Unabhängigkeit Tunesiens.

Beide Abstimmungen mündeten in einen friedlichen Machtwechsel, in der politischen Landschaft des Nahen Ostens eine absolute Rarität. Im Parlament verlor die Muslimbruderschaft Ennahda ihre Mehrheit und gehört der neuen Regierung nur noch als Juniorpartner an. Am 31. Dezember 2014 löste der 89-jährige Béji Caid Essebsi seinen Vorgänger Moncef Marzouki im Präsidentenamt ab, ohne dass es zu Chaos und Tumulten kam. Seitdem sind in Tunesien erstmals sämtliche demokratischen Institutionen fest etabliert – Verfassung, Parlament, Präsident und Regierung. „Der Friedensnobelpreis würdigt Tunesiens Weg des Konsenses“, erklärte Staatschef Essebsi.

Doch die Nobelgewinner des Quartetts wissen, dass der Weg von den euphorischen Tagen im Januar 2011 hin zu einer stabilen demokratischen Nation noch lang und steinig ist. Über 15 Prozent Arbeitslosigkeit, eine stotternde Wirtschaft, steigende Preise sowie die Terrorgefahr sind die brennenden Probleme, die das Land beschäftigen. Bei einem Massaker im März vor dem Bardo-Museum in Tunis starben 22 Menschen, drei Monate später richtete ein junger Tunesier in Sousse mit einer Kalaschnikow am Strand 38 Touristen hin. Mehr als 3000 junge Tunesier kämpfen inzwischen an der Seite des „Islamischen Kalifates“.

„Ihr werdet kein ruhiges Leben mehr haben, wenn in Tunesien nicht die Scharia eingeführt wird“, drohten die Fanatiker per Videobotschaft ihren Landsleuten daheim. Mehr als 12 000 junge Verführte wurden nach Angaben des Innenministeriums bisher an der Ausreise nach Syrien und in den Irak gehindert.

Sozialpakt aushandeln

„Würde, Freiheit, Arbeit“, lauteten 2011 die Ideale des tunesischen Volksaufstands – und so werden dem Quartett in den nächsten Jahren die Themen nicht ausgehen. Angesichts der heimischen Wirtschaftskrise will das Forum jetzt einen dreijährigen Sozialpakt zwischen Gewerkschaften und Arbeitgebern aushandeln. Die Firmen verpflichten sich, keine Fabriken zu schließen und keine Arbeiter zu entlassen, dafür wollen die Gewerkschaften im Gegenzug zusichern, nicht zu streiken und alle Streitfälle durch eine Vermittlungskommission zu regeln.

Zudem sollen Folter, Haft und Verfolgung politischer Gegner durch das Ben-Ali-Regime durch eine Wahrheitskommission nach dem Vorbild Südafrikas aufgearbeitet werden. Für Empörung sorgt derzeit in Tunesien ein Gesetzentwurf, der Straffreiheit für korrupte Geschäftsleute des alten Regimes vorsieht, wenn sie die unterschlagenen Millionen zurückzahlen, so dass sie in die notleidende Wirtschaft investiert werden können. „Wir vergeben nicht“, skandieren beinahe täglich Demonstranten vor dem Stadttheater von Tunis auf dem Boulevard Bourguiba, wo am 14. Januar 2011 Hunderttausende den Sturz Ben Alis feierten. „Vergeben wird nur vor Gericht“, steht auf ihren Transparenten.

Reaktionen auf die Preisvergabe

Steffen Seibert, Regierunssprecher: „Die Bundesregierung gratuliert den Mitgliedern des nationalen tunesischen Dialogquartetts herzlich (...). Es ist der verdiente Lohn für eine Arbeit an der Demokratie, für ein Festhalten an der Idee, dass ein Volk, das eine Diktatur abgeschüttelt hat, etwas Besseres verdient als eine neue Diktatur.“

Donald Tusk, EU-Ratspräsident: „Glückwünsche an das Quartett für den nationalen Dialog zum Nobelpreis. Nach einem Besuch in Tunesien im März verstehe und respektiere ich die Entscheidung.“

Federica Mogherini, EU-Außenbeauftragte: „Der Nobelpreis für das Quartett für den nationalen Dialog in Tunesien zeigt den Weg aus der Krise in der Region: nationale Einheit und Demokratie.“

Martin Schulz, Präsident des Europäischen Parlaments: „Glückwünsche an das Quartett für den nationalen Dialog, die verdienten Gewinner des Friedensnobelpreises. Die Tunesier haben das Recht, stolz zu sein.“

Manuel Valls, französischer Premierminister: „Errungenschaften des tunesischen Volks mit dem Friedensnobelpreis belohnt. Lang lebe die tunesische Demokratie!“

Laurent Fabius, französischer Außenminister: „Friedensnobelpreis für Tunesien: ein Vorbild und eine Hoffnung.“

Kailash Satyarthi, Friedensnobelpreis-Gewinner 2014: „Herzlichste Glückwünsche an das tunesische Quartett für den nationalen Dialog zum Erhalt des Friedensnobelpreises 2015.“

Mohammed El Baradei, ägyptischer Friedensnobelpreisträger: „Die nationale Versöhnung und die Achtung der Menschenrechte sowie Demokratie und Gewaltlosigkeit sind der richtige Weg.“ Quelle: dpa

 
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