Mohamed weiß, was er will. Und wohin. „Brittany, Brittany“, ruft er und zeigt dann in Richtung Meer, dort, wo auf der anderen Seite sein ersehntes Ziel liegt: Großbritannien. Seit Tagen streift Mohamed durch das nordfranzösische Hafenstädtchen Ouistreham in der Hoffnung, irgendwie auch die letzte Etappe auf seiner Reise zu schaffen, die ihn von seiner Heimat im Sudan über Libyen, das Mittelmeer und Italien bis in die Normandie geführt hat. 17 Jahre alt sei er, sagt Mohamed. So wie sich fast alle Flüchtlinge hier als Minderjährige ausgeben, weil sie sich eine bessere Behandlung durch die Behörden erhoffen.
Fast 190 Kilometer sind es vom Hafen in Ouistreham ins britische Portsmouth. Eine Strecke, die für Mohamed nah und zugleich unüberwindbar scheint. Drei Mal am Tag überqueren die großen Fährschiffe den Ärmelkanal. Und jedes Mal versuchen Menschen wie er, an Bord zu kommen.
Die jungen Männer lauern auf einen Lastwagen
Vor jeder Abfahrt füllen sich die Straßen um den Parkplatz am Hafen. In kleinen Gruppen stehen die jungen Männer herum, lauernd. Fast alle stammen aus dem Sudan. Auch an einem milden Tag tragen sie Wollmützen und warme Jacken. Sie streifen um jene Kurve, auf der die Lastwagen von der Autobahn zum Fährhafen unterwegs sind. Hält der Laster an der roten Ampel, versuchen manche, sich daran zu hängen und raufzuklettern, in den Laderaum oder den Spalt hinter dem Führerhaus. Oft bemerkt sie der Fahrer. Ohnehin gibt es auf französischer und britischer Seite Kontrollen.
Dennoch gelingt Einzelnen die Überfahrt. Wie vielen, weiß man nicht. Aber in wenigen Wochen ist die Zahl der Flüchtlinge in den Straßen von Ouistreham deutlich gewachsen – von einem Dutzend auf mehr als 100. Nun wird befürchtet, dass sich in dem beschaulichen Seebad das wiederholt, was 350 Kilometer nordöstlich in Calais passiert ist.
Vor einem Jahr wurde das „erbärmliche“ Lager bei Calais geräumt
Seit Jahrzehnten gilt Calais als Magnet für Flüchtlinge, die nach Großbritannien wollen. Zeitweise sammelten sich hier bis zu 10 000, um über den Ärmelkanal zu kommen. Sie hausten am Rande der Stadt, die meisten in Zelten, ein paar Frauen und Kinder in Hütten, fast ohne Waschmöglichkeiten oder Toiletten. „Erbärmlich“ nannte das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen die Bedingungen dort, vom „Dschungel von Calais“ war die Rede. Ein Jahr ist es her, dass der damalige Präsident François Hollande das Lager räumen ließ. Die Flüchtlinge wurden auf rund 450 „Aufnahme- und Orientierungszentren“ im ganzen Land verteilt, wo sie über Asylchancen informiert wurden. Doch schnell entstanden in und um Calais neue Camps von Migranten, die um jeden Preis nach Großbritannien wollen, wo sie Freunde oder Verwandte haben und auf Schwarzarbeit hoffen. Regelmäßig löst die Polizei wilde Camps auf; Menschenrechtler beschuldigen sie, Flüchtlinge nachts im Schlaf mit Tränengas zu malträtieren. Es sind Bilder, wie man sie, zwei Jahre nach Beginn der Flüchtlingskrise, kaum noch in Europa sieht.
Die Flüchtlinge übernachten auf Kartons im Wald
Calais ist ein Ort, an dem das europäische Asylproblem sichtbar wird. Und an dem sich zeigt, dass in Frankreich vieles anders läuft als in Deutschland. Ein Sinnbild dafür, warum das Nachbarland sein Flüchtlingsproblem nicht in den Griff bekommt. Da die Stadt und mit ihr der größte Fährhafen des Landes massiv abgeriegelt sind, weichen immer mehr Flüchtlinge auf andere Städte aus. Nun eben auf Ouistreham, den zweitgrößten Hafen des Landes. Die Lage spitzt sich zu, seit vor einem Monat ein von Flüchtlingen besetztes Haus abbrannte. Viele der Männer, die dort schliefen, wollten am nächsten Tag in Ouistreham die Fahrt über den Ärmelkanal wagen. Nun übernachten die Flüchtlinge auf Kartons im Wald.
Die menschliche Not vor seiner Haustür wollte Michel Martinez, den hier alle Miguel nennen, nicht mehr mit ansehen. Mit einer Handvoll Freunde gibt er seither zweimal pro Woche warmes Essen aus, verteilt Kleider, Schuhe und Waschutensilien. All das passiert auf freiem Feld unweit des Waldes. Die Stadt hat ein Schild aufgestellt, das den Zugang zum Wald verbietet. Offiziell, weil es um die Baumpflege geht. Andere sagen, die Anwohner sollen möglichst wenig mitbekommen von den Flüchtlingen.
Der Bürgermeister will kein Zeichen setzen, das noch mehr Menschen anlockt
Miguel (48) hat gerade 100 Regenjacken für die Flüchtlinge bestellt, für die Zeit, wenn der Herbst rauer wird. Anfragen an die Stadt, Toiletten, Waschmöglichkeiten oder zumindest eine Wasserstelle aufzustellen, seien vergeblich. „Ganz zu schweigen von einer festen Unterkunft für die Flüchtlinge: Das wird es hier nie geben. Wer den Bürgermeister fragt, spricht mit einer Mauer“, sagt er.
Romain Bail bemüht sich, mitfühlend und standfest zugleich aufzutreten. „Die Situation ist kompliziert. Man versteht das menschliche Drama hinter jedem Flüchtlingsschicksal“, erklärt der Bürgermeister. „Aber wenn wir anfangen, Hilfe zu organisieren, kommt es zu einer Sogwirkung und es werden immer mehr.“ 20 Kilometer entfernt, in Caen, gebe es Organisationen, die sich mit Flüchtlingshilfe auskennen und die Ouistreham unterstützen. Doch längst ist die Stimmung in der 10 000-Einwohner-Stadt aufgeheizt. Die Geschäftsinhaber klagen, dass der Umsatz einbricht. Der Bürgermeister sagt, die Menschen seien beunruhigt angesichts der „permanenten Anwesenheit“ von Flüchtlingen.
Manche legten sich einen Hund zu, viele hätten Angst vor Einbrüchen. „Unsere Stadt lebt vom Tourismus und ich sorge mich um die Saison 2018“, sagt Bail. „Es gab schon erste Absagen für Ferienhäuser.“ Die Zahl der Sicherheitskräfte musste erhöht werden – von 30 Gendarmen auf aktuell 38, hinzu kämen 24 Reservisten, sieben mobile Brigaden, drei Sicherheitskräfte für die Nacht und 22 Soldaten im Hafenbereich.
Das Problem ist ein internationales
Ein Städtchen wie Ouistreham könne die Flüchtlingskrise nicht lösen, die ein europäisches, ja internationales Problem darstelle, sagt Bail. Auch der französische Staat sei in der Pflicht, der Fördergelder streiche und die Städte allein lasse. Tatsächlich hat Präsident Emmanuel Macron nach seiner Wahl im Mai angekündigt, bis Jahresende dürfe es „keinen einzigen Flüchtling mehr in den Straßen“ des Landes geben und Asylanträge sollten schneller bearbeitet werden. Doch die Realität ist eine andere. So wie es kein ungewohnter Anblick ist, dass Roma teilweise in wilden Lagern an Stadträndern oder unter Brücken leben, so gibt es eben auch die Zeltstädte, in denen Flüchtlinge hausen.
Obwohl Frankreich deutlich weniger Flüchtlinge aufnehmen musste und muss als Deutschland, hat das Land deutlich mehr Probleme: Verteilung und Unterbringung liefen schleppend, manche Kommunen wehrten sich dagegen, Flüchtlinge aufzunehmen. Oft wird mit den wirtschaftlichen Problemen des Landes argumentiert. Und viele Franzosen sind der Meinung, dass es ohnehin zu viele Ausländer gibt, erst recht durch die vielen Afrikaner, die aus den ehemaligen französischen Kolonien gekommen sind. Es sind vor allem diese Probleme, die den rechtsextremen Front National stark gemacht haben. Auch deswegen hatte François Hollande Angela Merkel in ihrem Kampf um eine EU-weite Verteilungsquote nur halbherzig unterstützt. Macron dagegen lobt die Kanzlerin für ihre Einwanderungspolitik.
Frankreis Präsident bemüht sich um Lösungen direkt in Afrika
Besonders angespannt erscheint die Lage in Paris, wo täglich neue Flüchtlinge ankommen und Menschen unter Brücken oder entlang von Straßen campieren. Die Aussicht auf Jobmöglichkeiten macht die französische Metropole zu einem Magneten, überfordert sie aber auch. Nachdem der „Dschungel“ von Calais aufgelöst wurde, sollen viele Flüchtlinge wieder nach Paris gezogen sein, berichten Hilfsorganisationen.
Zwei Aufnahmezentren hat die Stadt im vergangenen Jahr eröffnet – eines nur für Männer, eines für Frauen und Kinder –, um die Menschen danach auf andere Städte zu verteilen. Doch die Kapazitäten reichen längst nicht aus. Hunderte leben daher auf den Straßen der Hauptstadt. Sie werden regelmäßig von der Polizei vertrieben – doch sofort entstehen neue Lager.
Macron bemüht sich derweil um internationale Lösungen. Ende August organisierte Paris einen Migrationsgipfel, die Präsidenten von Niger und Tschad waren dabei. In beiden Ländern arbeitet die französische Asylbehörde daran, Zentren einzurichten, um Asylanträge zu prüfen, bevor sich die Menschen auf die Reise übers Mittelmeer machen. Nur 10 000 Flüchtlinge wird Frankreich in den nächsten zwei Jahren aufnehmen, hat Macron vorgegeben.
Für viele bleibt Frankreich dennoch ein Ziel auf ihrer Reise, ein Durchgangsland – und wahrlich kein gastliches. „Frankreich ist nicht gut. Es gibt hier nichts für uns“, sagt Mohamed, der junge Mann aus dem Sudan. Und richtet den Blick wieder aufs Meer.