Der Österreicher Gerald Knaus ist Gründer der Denkfabrik „Europäische Stabilitätsinitiative ESI“. Der 46-jährige Balkan-Experte gilt als Architekt des EU-Türkei-Flüchtlingsabkommens.
Gerald Knaus: Dieser Plan kann nicht funktionieren. Die von den Vereinten Nationen eingesetzte libysche Regierung kontrolliert nur Teile der Küste. Unter den jetzigen Umständen ist es illusorisch zu glauben, dass sie das Schleppergeschäft bekämpfen kann. Die Bedingungen in den Flüchtlingslagern in Nordafrika sind zudem teils katastrophal und menschenunwürdig. Dieses Abkommen wird die Flüchtlingskrise im Mittelmeer nicht lösen.
Knaus: Wir brauchen für Süditalien und Griechenland schnelle, europäische Asylmissionen. Diese sollten in wenigen Wochen entscheiden, ob ein Flüchtling, der im Mittelmeer aufgegriffen wird oder Italien erreicht, Schutz braucht. Die EU sollte zudem mit den Herkunftsländern der Flüchtlinge wie Nigeria oder der Elfenbeinküste Abkommen abschließen und abgewiesene Asylbewerber sofort zurückschicken. Das führt dazu, dass viele andere Landsleute aus der Heimat der abgewiesenen Asylbewerber die teure Reise gar nicht erst beginnen. Die Zahl der Flüchtlinge auf dem Mittelmeer ginge dann zurück.
Knaus: Nein. Die anderen europäischen Länder müssen für die EU-Misson Italien und Griechenland mit genügend Ressourcen und Personal ausstatten, um die Verfahren drastisch zu beschleunigen. Bisher dauern die Verfahren viel zu lange. Rückführungen funktionieren überhaupt nicht. Deshalb haben abgelehnte Asylbewerber aus Afrika gegenwärtig eine Wahrscheinlichkeit von 99 Prozent, dass sie in Europa bleiben dürfen.
Knaus: Wichtig wäre, dass die betroffenen Länder erst ab einem bestimmten Zeitpunkt alle ihr abgewiesenen Staatsbürger zurücknehmen müssen. Dann haben sie es mit einer klar begrenzten Gruppe zu tun. Zudem müssten sie niemanden aufnehmen, der schon jetzt in Europa lebt, denn das ist in diesen Ländern extrem unpopulär. Abgesehen davon würden sie das ohnehin nicht tun. Außerdem könnte die EU den betroffenen Staaten im Gegenzug Stipendien oder Visa-Erleichterungen für Touristen anbieten.
Knaus: Machen wir es ganz konkret: Soll Deutschland Nigeria, einem Land mit 169 Millionen Einwohnern, einige Millionen Euro kürzen? Geld, das dem Kampf gegen Kinderkrankheiten oder dem Ausbau erneuerbarer Energie vor Ort dient? Wer kann denn ernsthaft glauben, dass das erfolgsversprechend und sinnvoll wäre? Beim Gipfel auf Malta wurde wenig über Nigeria geredet.
Dabei stammen von dort die meisten Flüchtlinge, die 2016 nach Italien gekommen sind. Andererseits wird schon darum gerungen, zwei Dinge zu vereinbaren: Man möchte die Außengrenzen sichern, aber gleichzeitig die Flüchtlingskonvention respektieren. Unser Plan würde beides miteinander kombinieren.
Knaus: Leider hat die EU mit dem Rückgang der Asylbewerberzahlen hier den Fokus verloren. Man lässt die griechischen Inseln allein. Das ist unklug und gefährdet das Abkommen. In der Tat müsste man sich viel mehr anstrengen, um das Abkommen vollständig umzusetzen. Wir benötigen bessere Aufnahmebedingungen. Die Flüchtlingslager auf den griechischen Inseln Chios und Lesbos sind zurzeit eine Schande. Zudem brauchen wir genügend Personal, um Asylentscheidungen treffen zu können. Und wir benötigen einen klaren Fahrplan mit der Türkei, damit das Land nachweisbar ein sicherer Drittstaat ist. Aber man kann die Lage in der Türkei für Flüchtlinge nicht mit Nordafrika vergleichen.
Knaus: Die Vorstellung, dass die EU oder Deutschland mehr Einfluss hätte, wenn es morgen kein Flüchtlingsabkommen gäbe, ist nicht überzeugend.
Knaus: Die Türkei hat kein Interesse daran, dass in der Ägäis die Schlepper regieren und Hunderte vor ihrer Küste ertrinken, wie noch vor einem Jahr. Sie profitiert zudem davon, dass die EU die syrischen Flüchtlinge in ihrem Land unterstützt, was allen – der Türkei, der EU und den Flüchtlingen – zugutekommt. Die größte Herausforderung mit dem Abkommen liegt derzeit nicht in der Türkei, sondern auf den griechischen Inseln.