Kremlchef Wladimir Putins Raketenprojekte sowie eine geplante stärkere Präsenz der Nato in Osteuropa haben die Ost-West-Spannungen weiter verschärft. Moskau fürchte um seine Sicherheit, sagte Putins Sprecher Dmitri Peskow am Mittwoch. Der Kremlchef hatte angekündigt, in diesem Jahr mindestens 40 neue atomwaffenfähige Interkontinentalraketen zu beschaffen. Nun droht auch die Nato mit weiteren Muskelspielen. US-Außenminister John Kerry warnte vor einem Rückfall in die Zeit des Kalten Krieges. Auch die Wirtschaftsbeziehungen leiden: die EU verlängerte wegen Moskaus Rolle im Ukraine-Konflikt ihre Sanktionen um weitere sechs Monate.
„Das nukleare Säbelrasseln Russlands ist ungerechtfertigt, destabilisierend, und es ist gefährlich“, kritisierte Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg in Brüssel. „Wir antworten.“ Die Nato erhöhe ihre Präsenz im östlichen Teil der Bündnisgebietes. Konkret diskutieren die USA, ob Kriegstechnik in mehreren osteuropäischen Nato-Staaten gegen Russland in Position gebracht werden soll. Vor allem baltische Staaten fordern, dass die neue schnelle Eingreiftruppe der Nato bei ihnen stationiert werde. Teile dieser 5000 Mann starken Truppe, die zur Abschreckung Russlands aufgebaut wurde, sind zurzeit zu Übungen in Polen.
Peskow verurteilte Stoltenbergs Kritik. Putin habe klar gemacht, dass Russland anders als die Nato keine Truppen an seine Grenze verlege. Die Nato aber stationiere Kriegstechnik in Russlands Nähe und wolle damit das strategische Kräftegleichgewicht ändern. „Dies kann nur Besorgnis in Russland auslösen“, betonte Peskow.
Ängste vor einem Wettrüsten wie im Kalten Krieg spielte der Kreml herunter. Russland reagiere auf Bedrohungen, nicht mehr, sagte Putins Berater Juri Uschakow. „Wir sind gegen ein Wettrüsten, denn dies würde unsere eigene Wirtschaft schwächen“, betonte er.
Auch auf die Verlängerung der EU-Sanktionen um sechs Monate bis Ende Januar 2016 reagierte Moskau zunächst demonstrativ gelassen. „Wir haben das Andauern der Sanktionen in unsere Prognosen eingerechnet“, sagte Finanzminister Anton Siluanow der Agentur Interfax zufolge. Der Gipfel der EU-Staats- und Regierungschefs hatte bereits im März die Linie vorgegeben: Er beschloss, dass die Strafmaßnahmen erst dann aufgehoben werden, wenn die Vereinbarungen des Minsker Friedensplans für die Ukraine in den Kernpunkten bis Jahresende umgesetzt sind.
Außenminister Frank-Walter Steinmeier warnte in Berlin vor einem neuen Wettrüsten zwischen Ost und West. Putins Aufrüstung sei „unnötig und sicher kein Beitrag zu Stabilität und Entspannung in Europa“, sagte er. „Aber es scheint so zu sein, als ob die alten Reflexe des Kalten Kriegs lebendiger sind als wir gedacht haben. Ich kann nur warnen, diesen Reflexen nachzugeben.“ Auch Kerry zeigte sich besorgt: „Niemand will zu einem Status wie im Kalten Krieg zurück.“ Zur Besonnenheit mahnte der Leiter der Münchner Sicherheitskonferenz, Wolfgang Ischinger. „Ich rate beiden Seiten, sowohl rhetorisch wie auch inhaltlich nicht auf-, sondern abzurüsten.“
Militärische Machtproben und kriegerische Rhetorik haben sich seit dem Beginn der Ukraine-Krise vor mehr als einem Jahr verschärft. Russland und die USA werfen sich gegenseitig vor, etwa mit Manövern Öl ins Feuer zu gießen. So sichtete die Nato nach offiziellen Angaben aus Riga binnen 24 Stunden wieder neun russische Kampfflugzeuge im internationalen Luftraum vor der Küste des Nato-Landes Lettland. Auf See seien ein U-Boot und zwei Schiffe der russischen Marine geortet worden.
Die Nato-Russland-Grundakte
Die Zusammenarbeit und Sicherheit zwischen der Nato und Russland regelt die 1997 in Paris unterzeichnete Grundakte. Damit sollte ein Schlussstrich unter die jahrzehntelange Ost-West-Konfrontation gezogen werden. Gleich zu Beginn heißt es in dem Papier: „Die Nato und Russland betrachten einander nicht als Gegner.“ Die jeweiligen Staaten verpflichten sich zu einem „dauerhaften und umfassenden Frieden“ und sollen sich um „Berechenbarkeit“ bemühen, was ihre Streitkräfte anbelangt.
Russland habe „in beispielloser Weise Truppen aus den Ländern Mittel- und Osteuropas sowie den baltischen Staaten abgezogen und alle seine Nuklearwaffen in sein eigenes Hoheitsgebiet zurückgeführt“. Das Land wolle die Zahl nuklearer und konventioneller – also nicht-atomarer – Streitkräfte verringern und bei deren Stationierung zurückhaltend sein, heißt es weiter.
Zur Rolle der Nato wird in der Grundakte festgehalten, dass die Mitgliedstaaten „nicht die Absicht, keine Pläne und auch keinen Anlass haben, nukleare Waffen im Hoheitsgebiet neuer Mitglieder zu stationieren“. Dasselbe gelte für „nukleare Waffenlager im Hoheitsgebiet dieser Mitgliedstaaten“. Damit sind laut der Grundakte zum Beispiel Bunker oder Gewölbe gemeint, die als solche Lagerstätten genutzt werden können. Text: dpa