Die NATO hat Afghanistan erstmals offiziell und mit den Stimmen aller Mitgliedstaaten den vollständigen Abzug ihrer Truppen 2014 und den Entzug der zugesagten Finanzhilfen angedroht. „Es ist klar, dass es ohne Unterschrift und die Vereinbarung mit den USA keine Entsendung von Soldaten geben kann“, sagte der Generalsekretär der Allianz, Anders Fogh Rasmussen, am Dienstag in Brüssel.
Nach einem entsprechenden Ultimatum der USA hat das Bündnis damit nun auch offiziell angekündigt, was dem Land am Hindukusch blüht, sollte Präsident Hamid Karsai nicht bis spätestens April 2014 das Sicherheitsabkommen mit Washington unterzeichnen. „Wir sind bereit, auch künftig zu helfen“, betonte Bundesaußenminister Guido Westerwelle (FDP) bei seinem mutmaßlich letzten Aufritt in Brüssel. „Die Unterzeichnung des Dokumentes ist dabei von entscheidender Bedeutung.“
Das ohnehin mühsam ausgehandelte Papier gilt als Rahmen für den Einsatz der NATO-Soldaten, der nach dem Abschluss der auslaufenden ISAF-Mission unter dem Namen „Resolute Support“ (entschlossene Unterstützung) anlaufen soll. Zwischen 8000 und 12 000 Mann wollen die NATO-Staaten als Trainer und Unterstützung für den afghanischen Sicherheitsapparat im Land lassen.
Rund vier Milliarden Dollar Entwicklungshilfe haben allein die USA zugesagt. Die Vereinbarung soll als Vorbild für weitere Abkommen dienen, die die Führung in Kabul mit jedem einzelnen NATO-Staat schließen würde. All das steht nun auf dem Prüfstand. Denn, so Westerwelle: „Wir müssen planen.“
Die offiziellen Äußerungen der NATO-Vertreter sind die diplomatisch-höfliche Variante dessen, was gestern hinter verschlossenen Türen alles ausgesprochen wurde. Da war von der „Selbstherrlichkeit“ Karsais die Rede, von einem Präsidenten, der „im Zweifel seine Familie verkaufen würde, nur um seine Haut zu retten“. Die Wut übertrifft die Enttäuschung über den Paschtunen im Kabuler Präsidentenpalast, der seine Machtbasis jahrelang nur mit Rückendeckung der NATO aufbauen konnte.
Wie der Mann allerdings tickt, versteht im Hauptquartier der Allianz keiner mehr. Seit Monaten sattelt der afghanische Präsident immer weitere Forderungen drauf und verlangt stets neue Zugeständnisse. Dabei hatte die Loja Jirga, die traditionelle Stammesversammlung, das Abkommen mit den USA bereits gebilligt. Karsai blieb dennoch stur.
In der Vorwoche verlangte er von US-Sicherheitsberaterin Susan Rice, dass die US-Armee künftig auch keine Razzien mehr ansetzen und Häuser von Afghanen durchsuchen dürfe. Genau dieses Recht hatten beide Seiten aber für den Fall ausgehandelt, dass Amerikaner selbst in Gefahr geraten würden. In Bundeswehr-Kreisen erwartet man diese Freiheit ebenfalls.
Doch Karsai scheint inzwischen die zivilen Opfer von Angriffen zu nutzen, um seine Machtbasis abzusichern, heißt es in Kabul. Er brauche das, um nach dem Abzug der ISAF-Einheiten nicht als Vasall Washingtons dazustehen. So tönte er in der vergangenen Woche nach dem Tod eines kleinen Jungen in der Provinz Helmand, die „amerikanischen Truppen respektieren afghanisches Leben nicht“.
Kaum weniger deutlich keilen US-Diplomaten inzwischen zurück und mahnen das 55-jährige Staatsoberhaupt deutlich: „Zuerst gehen die Soldaten, dann kommt kein Geld mehr und irgendwann muss Herr Karsai in seinem eigenen Land um sein Leben fürchten.“ Die NATO werde, so hieß es gestern in Brüssel, jedenfalls „nicht nachgeben“.