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BERLIN/WÜRZBURG
Nachhilfe boomt - der Kampf um die Noten
Nachhilfe boomt: Es ist ein Milliardengeschäft. Auch Grundschüler lassen sich schon helfen. Unfassbar? Eine Suche nach Erklärungen.
Stefanie Wirsching
 |  aktualisiert: 16.11.2015 03:45 Uhr

Beginnen wir mit Jan, schlaksiger Typ, ist eigentlich ganz normal. Chillt gerne, feiert gerne, was man eben so macht als Heranwachsender. Das Wichtigste an Jan ist aber dies: Er versteht nicht viel von Mathe. Jan checkt die Mitternachtsformel nicht, er blickt beim sogenannten Ziegenproblem nicht durch und mit Strahlensätzen bleibt man ihm am besten vom Hals. Muss man sich um Jan Sorgen machen? Muss man nicht! Er hat ja Nico und Alex! Die beiden zählen zu Deutschlands beliebtesten Nachhilfelehrern, vier Millionen Mal pro Monat werden ihre Youtube-Videos geklickt, in denen sie ihrer Kunstfigur Jan den Schulstoff erklären. Es geht immer locker zu, das klingt dann etwa so. „Fangen wir mal mit nem Kreis an. Was ist das noch mal genau. Ein Kreis sind alle Punkte, die von nem Mittelpunkt den gleichen Abstand haben.“

Vor drei Jahren haben Alexander Giesecke und Nicolai Schork, damals noch Elftklässler in Mosbach, ihren Youtube-Kanal gegründet. „Wir wollten irgendetwas im Internet starten“, sagt Alex, „aber professionell.“ Also etwas, das sie auch können: Nachhilfe eben. So entstand TheSimpleMaths, mittlerweile ein Unternehmen mit neun Mitarbeitern und den Studenten Alex und Nico als Geschäftsführern.

Aus einem Fach sind fünf geworden – seit einem Monat können sich Schüler auch in Wirtschaft schlaumachen. „Nach der ersten Nacht hatten wir schon 10 000 Abonnenten“, sagt Alex: „Unfassbar!“

Unfassbar. Das gilt auch für die ganze Branche, deren jüngste Musterschüler die beiden Studenten sind. Nachhilfe in Deutschland ist ein Milliardengeschäft, ein boomender Markt, auf dem sich die unterschiedlichsten Anbieter und Lehrkräfte tummeln – angefangen bei professionellen Nachhilfe-Instituten über Online-Angebote, bei denen der Lehrer per Internet mit seinem Schüler chattet, bis hin zur klassischen, privat vermittelten Hilfe.

Im Englischen läuft das Geschäft unter dem Begriff „Shadow education“ – Schattenbildung –, was auch bedeutet: Der Fiskus verdient nicht immer mit. Die Zahlen zum Umsatz sind daher Schätzwerk: Etwa 1,5 Milliarden Euro geben laut einer Studie der Bertelsmann-Stiftung die Eltern jährlich für die außerschulische Förderung aus. Kostenlose Online-Angebote, zum Teil über Werbung finanziert wie TheSimpleMaths, sind da also noch gar nicht eingerechnet.

Etwa jeder fünfte Schüler zwischen zehn und 18 Jahren erhält in Deutschland Nachhilfe. Das Deutsche Institut für Wirtschaftsförderung kommt in seiner jüngsten Studie sogar auf eine noch höhere Zahl. Etwa jeder zweite 17-Jährige gibt mittlerweile an, schon einmal Nachhilfe in Anspruch genommen zu haben. Unfassbar?

Was sich hinter den Zahlen verbirgt, ist mit nicht weniger Fragezeichen versehen. Was ist los im deutschen Bildungssystem, wenn zum Normalfall wird, was vor 20, 30 oder 40 Jahren doch eher die Ausnahme war nach einer verhauten Matheschulaufgabe oder vor einem drohenden Desaster in Latein? Werden die Schulen schlechter, die Lehrer unfähiger, die Schüler dümmer oder die Eltern immer ehrgeiziger? Oder sind es eben doch alle, die Gesellschaft eben, die Schulabschlüsse immer höher bewertet und damit den Druck erhöht und die ganze Familie kirre macht? Ursachenforschung also!

Anruf bei Professor Ludwig Haag in Bayreuth. Seit 30 Jahren forscht Haag zum Thema, er hat einen Ratgeber für Nachhilfelehrer geschrieben, denn „wenn die Eltern schon Geld ausgeben, soll die Qualität ja auch stimmen“. Was die Schuldfrage betrifft, da gibt es von ihm gleich den ersten Freispruch. An den Schülern liege es nicht, „die sind ja nicht dümmer geworden“. Schon vor 100 Jahren habe es Nachhilfe gegeben. Das Problemfach damals: Latein! „Aber das war natürlich eine kleine Gruppe.“ Das Gymnasium galt damals noch als elitärer Bildungshort, heute dagegen ist es nach dem Übertritt die am häufigsten gewählte Schulart. Und das größte Problemfach im Übrigen Mathematik. Siehe Jan.

Und damit ist Haag auch schon mittendrin im zu bearbeitenden Stoff. Die Rechnung, die er aufstellt, würde auch Jan sofort begreifen. Ist ja auch einfach: immer mehr höhere Abschlüsse, immer mehr Nachhilfe. Der Satz des Pythagoras will auch heute erst einmal verstanden sein! Weil die Rechnung um einen weiteren Faktor X, das sind die Eltern, erweitert werden muss, wird es schon ein wenig komplizierter.

Laut einer Forsa-Studie glaubt jeder vierte Elternteil, dass Schulen ihre Schüler zu wenig fördern. Dass man also irgendwie selber nachhelfen muss. Selbst wenn das Kind mit sehr guten Noten nach Hause kommt, sehen 64 Prozent der Eltern noch Förderbedarf. Nachhilfe als Ergänzungs- und nicht als Notprogramm?

Kindern Zeit zu lassen, fällt Eltern immer schwerer. Schon jeder sechste Grundschüler bekommt Extra-Unterricht, vor allem, wenn es auf den Übertritt zugeht. Im Studienkreis Augsburg, einer der rund 1000 Niederlassungen des bundesweiten Anbieters, wird auch Nachhilfe für Drittklässler nachgefragt. Die ersten Grundschüler tauchen auf, „wenn da in Mathe oder Deutsch plötzlich die Note Drei kommt“, sagt Studioleiterin Sandra Lößl. Der größere Ansturm erfolgt dann aber doch erst in den höheren Klassen. Alles schlechte Schüler? Mitnichten. Natürlich gebe es da die üblichen, pubertätsbedingt eher unmotivierten Siebt- oder Achtklässler, die kommen, wenn es brenzlig wird. „Da geht es dann darum, wie kann ich das Schuljahr noch schaffen.

“ Aber unter den Schülern finden sich auch solche, die der eigene Ehrgeiz treibt, die beispielsweise die Abiturnote oder die Zensuren für die mittlerere Reife noch nach oben treiben wollen. Hochsaison herrscht im Nachhilfegeschäft daher immer im Frühjahr.

Vor allem die Studios profitieren vom Boom. Der Studienkreis zählt mit einem jährlichen Umsatz von rund 80 Millionen Euro neben der Schülerhilfe zu den Branchenriesen, daneben gibt es eine immer größer werdende Zahl kleinerer Anbieter. Der Trend gehe zu professionellen Instituten, sagt auch Pädagogikprofessor Haag, etwa 40 Prozent der Nachhilfestunden finde dort statt. Unter anderem auch Hausaufgabenbetreuung, die eigentlich nicht unter Nachhilfe falle. „Da muss man trennen“, sagt Haag, aber beim Milliardengeschäft sei meist alles mitgerechnet. Die restlichen zwei Drittel des Kuchens teilen sich Lehrer, Studenten und Schüler, die privat ihre Dienste anbieten.

So wie beispielsweise Sarah, 22, BWL-Studentin. Auf ein Angebot der Jobbörse an der Uni kam sie zu ihrem ersten Nachhilfeschüler, seitdem muss sich Sarah nicht mehr um neue Aufträge kümmern: Sie wird weiterempfohlen. „Ich bekomme sehr viele Anfragen, aber ich habe keine Kapazitäten mehr.“ Pro Stunde verlangt Sarah zehn Euro. Es gebe auch Studienräte, die nehmen sechzig, sagt Haag. Im Studienkreis wiederum wird meist monatlich gezahlt: Ab 129 Euro für jeweils 90-minütigen Gruppenunterricht zweimal die Woche. So breitgefächert wie der Markt sind auch die Preise. In Amerika ist es mittlerweile durchaus gängig, dass der Schüler mit dem Nachhilfelehrer in Indien via Bildschirm sich ins Matheproblem vertieft – Bildung, aber bitte billiger!

Was die Studentin Sarah erlebt: Verständnisvolle Eltern, die manchmal verzweifelter sind als die Kinder. Schüler, die sich wenig zutrauen, schon gar nicht in Mathe. „Da müssen die Kinder erst einmal lernen, an sich zu glauben.

“ Und dann aber auch solche, die ihr freimütig gestehen: „Wenn du nicht da bist, schlage ich das Mathe-Buch nicht auf.“ Mindestens um eine Note verbessern sich ihre Schüler eigentlich immer, sagt die Studentin. Ihr Erfolgsrezept: Die Sachen so simpel wie möglich erklären. Und dabei den Spaß nicht vergessen. Sagt so auch Sandra Lößl: „Die Lernatmosphäre ist wichtig.“ Hauptsache anders als Schule! Von den Eltern als Nachhilfecoaches raten ohnehin alle ab. Auch Ludwig Haag: „Der Hausfrieden ist zu wertvoll!“

Womit wir wieder bei den Eltern wären, dem Faktor X. Und dem Arbeitsmarkt, Faktor Y sozusagen. Die Eltern heute würden alle für ihr Kind nur das Beste wollen, „und dazu zählt auch der beste Schulabschluss“, sagt der Pädagogikprofessor Haag, das führt dann, in der Fachsprache ausgedrückt, auch mal zu „übersteigerter Bildungsaspiration“. Zu hohe Erwartungen also. Das Kind, es soll eben fit sein für den nahenden Konkurrenzkampf um die besten Jobs. Wobei Haag bei der Ursachenforschung die Schulen gar nicht ausnehmen will. Mehr individuelle Förderung fordert er, mehr Förderangebote, mehr Ganztagsschulen.

„Fünf weg oder Geld zurück “, so wirbt das Unternehmen Schülerhilfe bundesweit für sein Angebot. Haag würde sich wünschen, dass in den Schulen selbst spätestens mit der Note Fünf eine individuelle Förderung einsetzen würde. „Das könnte doch schöne Zukunftsmusik sein.“

Und damit noch einmal zu Nico und Alex und der, wie sie es selbstbewusst nennen, „coolsten Nachhilfe Deutschlands“. In ihren Kommentaren sind die Schüler oft euphorisch. „Ihr wart die Rettung“, heißt es dann oder „Ich liebe euch, danke, danke, danke!“. Das sei total emotional, was er da zu lesen bekomme, sagt Alex. Frage also an ihn, eben noch Schüler: Warum ist da so ein Bedarf? Alex sagt, es hänge wohl auch mit der Gesellschaft zusammen. „Es ist cooler geworden, etwas zu wissen, gut in der Schule zu sein.“ Von wegen Streber! Gute Noten sind sexy. Und auch ein chronischer Nichtversteher wie Jan kann es ja schaffen. O-Ton TheSimpleMaths beim Thema Kreis: „Den Abstand nennt man Radius. Wir kürzen hier den Radius jetzt mal mit r ab. Wird überall so gemacht eigentlich.“ Alles im Grunde unfassbar einfach!

 
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