Nur in den „seltensten von seltenen Fällen“, so bestimmte das Verfassungsgericht 1980, darf in Indien die Todesstrafe verhängt werden. Noch seltener wird sie vollstreckt: Dreimal geschah das in den vergangenen 18 Jahren. Nur in besonders drastischen Fällen enden Verurteilte am Galgen. Dieses Kriterium dürfte das Verbrechen an der 23-Jährigen, die am Samstag nach einer Gruppenvergewaltigung starb, für die meisten Inder erfüllen. Am Donnerstag wurde Anklage wegen Mordes und Vergewaltigung gegen fünf Beschuldigte erhoben, der sechste soll nach derzeitigem Stand vor ein Jugendgericht gestellt werden.
Über die Erwachsenen soll eines der fünf neuen Schnellgerichte in der Hauptstadt Neu Delhi urteilen. Der Prozess soll bereits am Samstag beginnen. Die Schnellgerichte wurden als Konsequenz aus der Gräueltat vom 16. Dezember eröffnet. Die Lage der Frauen in Indien ist paradox. Es ist mitnichten so, dass sie nichts zu sagen hätten. Niemand im Land ist mächtiger als Kongresspartei-Chefin Sonia Gandhi. Parteifreundin Sheila Dikshit ist seit 13 Jahren Ministerpräsidentin Neu Delhis. Polizeichefin im Süden der Hauptstadt – wo die Studentin im Bus vergewaltigt wurde – ist eine Beamtin namens Chhaya Sharma. Weltberühmt sind Bollywood-Stars wie Aishwarya Rai.
Wer als Inderin allerdings nicht das Glück hat, zu den Reichen, Prominenten und Mächtigen zu gehören, ist der männerdominierten Welt viel schutzloser ausgeliefert. Vergewaltigungen verarmter Frauen auf dem Land sind Alltag, fanden aber bislang kaum öffentliche Beachtung. Sexuelle Belästigung wird häufig als Kavaliersdelikt abgetan. Die ermordete 23-Jährige verkörperte die neue Generation des Landes, die aus ärmlichen Verhältnissen in die Mittelschicht strebt. Indische Medien berichteten, ihr Vater – ein Arbeiter – habe ihr das Studium ermöglicht, indem er ein Stück Land verkaufte.
Nicht nur wegen der Grausamkeit des Verbrechens, sondern auch, weil die Studentin für die neue Mittelschichtgeneration stand, erfuhr ihr Fall eine so große Aufmerksamkeit. Indische Medien berichten seitdem deutlich prominenter über Vergewaltigungen. Nur ein Ausschnitt aus den vergangenen Tagen: Ein sechs Jahre altes Mädchen soll vergewaltigt worden sein, eine Achtjährige ebenso. Eine 16-jährige Schülerin soll von einem älteren Verehrer mit Kerosin übergossen und angezündet worden sein, weil sie ihn abwies.
Auch wenn es weitere Verbrechen geben wird, so hoffen viele Inder doch, dass sich nun dauerhaft etwas ändert – und Vergewaltiger nicht mehr mit milden oder gar keinen Strafen davonkommen. Hoffnung dürfte sich auch eine Frau aus dem südindischen Kerala machen, die vor 16 Jahren zum Opfer wurde. Ihr Fall war in Vergessenheit geraten – und wurde nun nach dem Tod ihrer 23-jährigen Leidensgenossin wieder zum Thema. Der Nachrichtensender NDTV berichtete, die Südinderin sei als 16-Jährige entführt und vergewaltigt worden – von 42 Männern, über 40 Tage lang. 1999 seien 35 Angeklagte verurteilt worden. 34 davon habe ein höheres Gericht drei Jahre später wieder freigesprochen. Dagegen hätten die Familie der Frau und die Staatsanwaltschaft 2005 beim indischen Verfassungsgericht Berufung eingelegt – das dann gar nichts unternommen habe. Am Donnerstag habe Indiens Oberster Richter Altamas Kabir angekündigt, dass der Fall nun aufgenommen werde: Anhörungen sollten binnen drei Wochen beginnen.