Auf dem Tahrir-Platz jubelten Ägyptens Muslimbrüder, im Gazastreifen und den Enklaven der syrischen Rebellen knatterten Salven aus Kalaschnikows in den Himmel. Mohamed Mursi ist Präsident Ägyptens – für den sunnitischen politischen Islam der größte Erfolg in seiner modernen Geschichte.
Noch nie zuvor war ein Mitglied der Muslimbruderschaft vom Volk in freier Abstimmung an die Spitze eines arabischen Landes gewählt worden. Nach Jahrzehnten der Verfolgung und Illegalität rüttelt die islamistische Organisation damit in Ägypten, aber auch zahlreichen anderen Staaten mit Erfolg an den Toren der Macht.
In Tunesien und Marokko stellen die Muslimbrüder inzwischen den Regierungschef. In Syrien spielen sie im Kampf gegen das Assad-Regime eine Schlüsselrolle. In Jordanien ist ihre „Islamische Aktionsfront“ die wichtigste Partei in der Opposition. Und in Libyen hat die „Partei für Gerechtigkeit und Aufbau“ die beste Ausgangsposition für die landesweiten Wahlen in der kommenden Woche, nachdem sie zuvor bei Kommunalwahlen in Benghazi bereits 48 Prozent der Stimmen erringen konnte.
Sichtlich beklommen betrat Mohamed Mursi dann auch Anfang der Woche das Amtszimmer von Hosni Mubarak im Ittihadiya-Palast. 18 Monate zuvor hatte Mubarak ihn noch nachts aus dem Haus holen und verhaften lassen.
Als Staatschef des bevölkerungsreichsten Landes der arabischen Welt verkörpert der 60-jährige promovierte Ingenieur Mursi fortan wie kein Zweiter den Anspruch der ältesten und einflussreichsten islamischen Bewegung des Nahen Ostens, künftig die politischen Geschicke der Region mitzusteuern und deren neue Ordnung zu prägen.
Gegründet wurde die Muslimbruderschaft 1928 von dem Lehrer Hassan al-Banna in der ägyptischen Stadt Ismailia. Heute hat die Organisation, die sich nach wie vor als eine Mischung aus politischer Partei und Fürsorgebewegung versteht, Filialen in über dreißig Ländern – im Orient, Asien und in Afrika.
Auf der arabischen Halbinsel, dem Kernland des Islam, existieren Bruderschaften in Bahrain, Kuwait, Saudi-Arabien und dem Jemen. Und die erste Friedensnobelpreisträgerin der arabischen Welt, Tawakkul Karman, gehört der Islah-Partei an, dem jemenitischen Zweig der Bruderschaft.
So vielfältig die Filialen, so vielfältig sind auch deren Profile. Diverse Gruppen in Syrien und Libanon, wie auch in Palästina gehören zum radikalen Segment. Vor allem die Hamas fühlt sich in ihren Kampf gegen Israel neu beflügelt. Der Waffenschmuggel von Libyen über Ägypten in den Gazastreifen dürfte weiter anschwellen. Und außenpolitisch erhoffen sich die radikalen Palästinenser von der neuen Führung in Kairo eine härtere Gangart gegenüber Jerusalem.
Am moderaten Ende des Spektrums wiederum stehen die islamistischen Parteien in Marokko und Tunesien. „Wir haben für die Freiheit gekämpft, nicht für die Scharia“, erklärte Tunesiens Ennahda-Chef Rached el-Ghannouchi, dessen Partei bei den ersten demokratischen Wahlen gut 40 Prozent der Stimmen holte. Auf einen neuen Verfassungszusatz, der die Scharia als Hauptquelle des Rechts festschreibt, beharrt er nicht. Er sei kein zweiter Chomeini, einen Kopftuchzwang für Frauen werde es nicht geben, sagt er. Gleichzeitig versicherte der gelernte Philosophieprofessor der skeptischen Öffentlichkeit, man werde die Freiheit der Künste achten. Der Islam fördere Theater, Kino und Fotografie – schließlich sei der Islam selbst „ein Stück Kunst“.
Ägyptens Muslimbrüder wiederum nehmen im Reigen der islamistischen Bewegungen eine Mittelstellung ein – und tragen ein dogmatisches und reformoffenes Doppelgesicht. Die Führung der schätzungsweise 500 000 Mitglieder agiert nach wie vor wie eine Geheimloge hinter verschlossenen Türen. „Der Koran ist unsere Verfassung, die Scharia unser Gesetz“, skandierten die Anhänger von Mohamed Mursi auf dessen Wahlveranstaltungen, die gelegentlich durch Massengebete unterbrochen wurden. „Niemand kann uns stoppen, in eine islamische Zukunft zu marschieren“, antwortete der Kandidat, der zur Stichwahl dann allerdings mit einer wesentlich geschmeidigeren Rhetorik überraschte. „Ich will einen demokratischen, zivilen und modernen Staat“, sagte er und versprach, eine Frau und einen Kopten als Vizepräsidenten zu ernennen. Beim Heiratsalter für Frauen, beim Recht der Frauen, eine Scheidung einzureichen, sowie beim Verbot weiblicher Genitalverstümmelung werde es keine Gesetzesänderungen geben. „Ich bin Präsident aller Ägypter“, verkündete er bereits am Abend seines offiziellen Wahlsieges in der ersten, kurzen Rede an die Nation. Und noch in der Nacht legte er seine Mitgliedschaft bei den Muslimbrüdern offiziell nieder.