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BERLIN
Mit letzter Kraft ins Kanzleramt
Martin Ferber
Martin Ferber
 |  aktualisiert: 22.03.2018 03:13 Uhr

Für einen kurzen Augenblick ist es gespenstisch still. Mit einem Schlag herrscht eisiges Schweigen im weiten Rund des Plenarsaals, keine Regung ist zu erkennen, die Gesichter wirken wie eingefroren. Erst mit einiger Verzögerung löst sich die Anspannung, die ersten Abgeordneten der Unionsfraktion beginnen zu klatschen, schließlich erheben sich alle von ihren Sitzen und applaudieren. Unionsfraktionschef Volker Kauder ist der Erste, der seiner Sitznachbarin Angela Merkel zur Wiederwahl gratuliert, es folgt CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt. Doch der Beifall fällt sparsam aus und verebbt schnell wieder, von Begeisterung keine Spur. Zu knapp ist das Ergebnis für Angela Merkel, zu viele Stimmen fehlen ihr aus den eigenen Regierungsparteien.

Denkbar knappes Ergebnis

Es ist 9.53 Uhr, als Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble (CDU) das Ergebnis der Wahl verkündet: 692 Stimmen wurden abgegeben, 688 waren gültig. Für Merkel stimmten 364 Abgeordnete, mit Nein votierten 315, zudem gab es neun Enthaltungen. „Damit hat Angela Merkel die erforderliche Mehrheit erhalten“, sagt Schäuble. Doch es ist ein denkbar knappes Ergebnis. CDU, CSU und SPD haben 399 Sitze, ihr fehlen also 35 Stimmen aus den eigenen Reihen. Und es sind gerade einmal neun Stimmen über der notwendigen Kanzlermehrheit von 355. Knapper geht es kaum, mit allerletzter Kraft rettet sich die 63-jährige promovierte Physikerin, die seit dem 22. November 2005 an der Spitze der Bundesregierung steht, ein viertes Mal ins Kanzleramt.

Auf den Fluren des Reichstagsgebäudes ist das schlechte Abschneiden der Kanzlerin das beherrschende Thema, die Opposition spricht gar von einem „Fehlstart“ der neuen Regierung, die am 171. Tag nach der Bundestagswahl ihre Arbeit aufnimmt. Das Gerücht macht die Runde, nur einige Stimmen aus den Reihen der Grünen hätten Merkel gerettet, was allerdings der neue Grünen-Chef Robert Habeck ausdrücklich dementiert. Nachprüfen kann das aber niemand.

„Wackeliger Beginn“

„Das ist kein gutes Zeichen, ein Menetekel“, sagt Bundestagsvizepräsident Wolfgang Kubicki von der FDP, Grünen-Fraktionschefin Katrin Göring-Eckardt spricht von einer „Klatsche“ und einem „wackeligen Beginn“ der dritten GroKo seit 2005.

Derweil schieben sich Union und SPD gegenseitig den Schwarzen Peter zu. Die beiden Fraktionschefs Volker Kauder wie Andrea Nahles pochen darauf, dass sie „sehr geschlossen“ für Merkel gestimmt hätten. Sie könne sich über die vielen Gegenstimmen für die alte und neue Kanzlerin „nur wundern“, sagt Nahles. Von einem „ehrlichen Wahlergebnis“, spricht der stellvertretende Vorsitzende der CDU/CSU-Fraktion, Georg Nüßlein (CSU), gegenüber dieser Redaktion. „Nach so langer Amtszeit und in einer schwierigen Koalition bröckelt das Ergebnis naturgemäß.“ Gleichzeitig verbindet er das mit einem klaren Auftrag an die Kanzlerin: „Viele, die Angela Merkel ihr Vertrauen ausgesprochen haben, erwarten eine Politikwende in der Flüchtlingsfrage, wie zwischen CDU und CSU mühsam vereinbart.“ Die CSU werde dafür sorgen, „dass das so kommt“. Und Andreas Jung, der Vorsitzende der CDU-Landesgruppe Baden-Württemberg im Bundestag, formuliert es kurz und griffig: „Große Koalition, knappe Mehrheit, enorme Aufgaben.“ Endlich habe man eine stabile Mehrheit, so der Konstanzer. „Konrad Adenauer wurde mit einer Stimme Mehrheit gewählt, bei Angela Merkel waren es heute neun.“ Nun gelte es, „mit Hochdruck“ an die Arbeit zu gehen und das Vertrauen zurückzugewinnen.

Ordnungsgeld verhängt

Für einen Eklat sorgt der AfD-Abgeordnete Petr Bystron, der in der Wahlkabine seinen Wahlzettel, auf dem er „Nein“ angekreuzt hat, fotografiert und auf Twitter mit dem Kommentar „Nicht meine Kanzlerin“ veröffentlicht. Parlamentspräsident Wolfgang Schäuble verhängt wegen einer „schwerwiegenden Verletzung der Ordnung und Würde des Bundestags“ ein Ordnungsgeld von 1000 Euro gegen ihn. Ein weiteres AfD-Mitglied, Mitarbeiter im Büro des bayerischen Abgeordneten Martin Sichert aus Nürnberg, wird als Störer von der Tribüne verwiesen, weil er ein Transparent mit der Aufschrift „Merkel muss weg“ entrollt hat.

Unmittelbar nach der Wahl kommt es zudem zu einem schweren Zwischenfall: Als Merkel in ihren Dienstwagen einsteigen will, nähert sich ihr am Ausgang des Reichstagsgebäudes ein Mann bis auf wenige Meter. Zwei Personenschützer der Kanzlerin greifen sofort ein und überwältigen ihn, auf einem Video, das den Vorfall dokumentiert, soll der Ruf „Allahua akbar“, Gott ist groß, zu hören sein.

Angela Merkel lässt sich von all dem nichts anmerken. Mit ihrer vierten Wahl zur Kanzlerin hat sie endgültig mit Konrad Adenauer und Helmut Kohl gleichgezogen. Vier Minuten vor neun Uhr kommt sie zusammen mit ihrem neuen Außenminister Heiko Maas (SPD) in den Plenarsaal, zur schwarzen Hose trägt sie einen weißen Blazer. Auf der Besuchertribüne haben nicht nur ihre mittlerweile 89-jährige Mutter Herlind Kasner und ihr Schwager Sven, der Mann ihrer Schwester Irene, Platz genommen, sondern zum ersten Male überhaupt auch ihr Ehemann, der 68-jährige Joachim Sauer, der während der Wahl ständig auf seinem Laptop tippt, sowie dessen Sohn Daniel aus erster Ehe. Merkel winkt ihnen von unten zu.

Seehofer mit Verspätung

Auf der Ehrentribüne haben sich die aus dem Amt ausgeschiedenen Ministerinnen und Minister ohne Bundestagsmandat sowie die neuen Ministerinnen und Minister, die dem Bundestag nicht angehören, versammelt, CSU-Chef Horst Seehofer, der neue Superminister für Inneres, Bauen und Heimat, kommt mit fast halbstündiger Verspätung und nimmt neben Ex-Wissenschaftsministerin Johanna Wanka Platz.

Mehrfach geht es an diesem Mittwoch zwischen Bundestag und Bellevue hin und her. Erst ernennt Frank-Walter Steinmeier die Kanzlerin, die danach vor dem Bundestag von Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble vereidigt wird, später erhalten alle Ministerinnen und Minister aus den Händen des Staatsoberhauptes ihre Ernennungsurkunden, ehe auch sie vor dem Bundestag den Amtseid ablegen.

Steinmeiers Appell

In einer kurzen Ansprache appelliert Steinmeier eindringlich an die neue Regierung, das verlorene Vertrauen wiederzugewinnen. Dafür werde „ein schlichter Neuaufguss des Alten nicht genügen“. Vielmehr müsse sie sich „neu und anders bewähren“ – auch im Umgang mit dem Parlament und der Öffentlichkeit. „Die Regierung ist gut beraten, genau hinzuhören und hinzuschauen, auch die alltäglichen Konflikte im Land – fern der Weltpolitik –, wo die Gewissheiten geschwunden sind und das Leben schwieriger geworden ist.“ Ein unmissverständlicher Auftrag, sich mehr um die Menschen im Land zu kümmern. Die mahnenden Worte kommen an.

Am späten Nachmittag traf sich die neue Regierung bereits zur ersten Kabinettssitzung, rasch sollen die ersten Gesetze auf den Weg gebracht werden. Zufrieden verlässt Merkels Mutter Herlind Kasner das Reichstagsgebäude, sie vertraut ihrer Tochter zu Beginn ihrer vierten Amtszeit, die wohl auch die letzte sein dürfte. „Ich bin ganz stolz“, sagt sie – und geht.

 
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