Als wären die zwei Meter hohen Wellen nicht genug. Von Süden her, wo Libyen liegt, bläst ein Sandsturm über das Meer, dass der Himmel glimmt. Keine zwei Seemeilen beträgt die Sicht. „Ein Schlauchboot, randvoll beladen mit Menschen, hätte jetzt keine Chance, das Mittelmeer zu überqueren“, sagt Stefan Klatt. Umgeben von Soldaten steht der Kapitän auf der Brücke des Versorgungsschiffs „Werra“, zieht an einer E-Zigarette und schaut hinaus auf die schäumende See. Kommandant Klatt, ein durchtrainierter Mann mit gepflegtem Vollbart, hat das Vorderdeck des deutschen Marineschiffs für die Besatzung gesperrt, die vier Seewachen von ihrem Ausguck abgezogen – unendlich viele Fliegen sind mit dem Sandsturm übers Meer gekommen.
Mit Flüchtlingen in Seenot oder Schleusern ist an diesem stürmischen Herbsttag nicht zu rechnen. Militärpfarrer Kristian Lüders, runde Brille, Uniform, ist dennoch beunruhigt. Von der Brücke aus hat er beobachtet, wie ein Falke auf dem Kran des Vorderdecks gelandet ist. Offenbar ist der Jagdvogel im Sandsturm orientierungslos aufs Meer hinausgeflogen – das Schiff ist seine Rettung. Was dem Militärpfarrer gar nicht behagt, ist die Symbolik. „Am Anfang unseres Einsatzes ist uns noch eine Taube zugeflogen“, erinnert sich Lüders. Die Zeiten haben sich geändert.
Seit dem 7. Oktober befindet sich der militärische Einsatz der Europäischen Union (EU) zur Bekämpfung von Schleuserkriminalität im Mittelmeer in seiner zweiten Phase. Der Tender „Werra“ und die Fregatte „Schleswig-Holstein“, die für die Bundeswehr vor der Küste Libyens patrouillieren, sollen nun nicht mehr nur Seenotrettung leisten für schiffbrüchige Flüchtlinge und möglichst viele Informationen sammeln über Netzwerke der Schleuser. Die Marineschiffe der Mission Eunavfor Med haben nun auch das Recht, Schleuser gezielt zu jagen und festzusetzen, sobald diese sich außerhalb nationaler Hoheitsgewässer befinden.
„Ich finde, dass Europa die Seenotrettung im Mittelmeer gut zu Gesicht steht“, sagt Kommandant Klatt. Niemand dürfe aber vergessen, dass das primäre Ziel der Mission die Bekämpfung von Schleuserkriminalität sei. Neun statt zuvor vier Schiffe kreuzen mittlerweile im südlichen Mittelmeer vor der Küste Libyens auf einer Fläche so groß wie Deutschland. Helikopter halten in der Luft Ausschau.
Versorgung auf dem Achterdeck
1186 Flüchtlinge in insgesamt sechs Booten hat die „Werra“ vor dem Ertrinken gerettet, seitdem sie im Juni den Heimathafen in Kiel verlassen hat. Auf dem Achterdeck, das im Normalbetrieb des Versorgungsschiffes zum Starten und Landen von Hubschraubern vorgesehen ist, wurden die Flüchtlinge in einem Zelt erst versorgt und dann sicher nach Sizilien gebracht. Jetzt sollen Kapitän Klatt und seine Besatzung zeigen, dass sie auch die Schleuser fangen können. Beim Auslaufen aus dem Hafen von Augusta in Sizilien hat der Kommandant seine knapp 100 Frauen und Männer an Bord erst mit fester Stimme eingeschworen – und dann gesagt: „Ich hoffe, dass wir einen Schleuser fangen, denn das trauen uns viele gar nicht zu.“
Die Soldaten wissen aber, dass es ihnen die Profiteure des Flüchtlingsstroms nicht leicht machen werden und dass sie sich auf die Gefahr einstellen, die ihnen nun jenseits der Zwölf-Seemeilen-Grenze droht. Denn schon jetzt benutzen die Schleuser jene, die Jagd auf sie machen. Im Schutz der Nacht – das hat die militärische Aufklärung ergeben – lassen sie die Boote mit den Flüchtlingen am Strand zu Wasser.
Bei drei bis fünf Knoten Geschwindigkeit verlassen diese dann spätestens vormittags die libyschen Hoheitsgewässer. Die Wahrscheinlichkeit, dass die Flüchtlinge in ihren Booten noch bei Tageslicht entdeckt und gerettet werden, ist so am höchsten.
Für die Schleuser bedeutet ein Boot mit 500 Flüchtlingen einen Millionengewinn. Zu viele Kunden, die im Mittelmeer ertrinken, schaden langfristig dem Geschäft. Deshalb haben einige Schleuser die Flüchtlingsboote in der Vergangenheit auch schon von größeren Schiffen raus aufs Meer schleppen lassen. Ein Risiko, das sie künftig kaum noch eingehen werden, wenn die Gefahr steigt, gefasst zu werden. Und damit erhöht sich nun wieder das Risiko für die auf sich allein gestellten Flüchtlinge.
Eine Lösung des Schleuserproblems verspricht sich die EU von einer dritten Phase der Mission. Dann sollen Streitkräfte auch in die libyschen Hoheitsgewässer eindringen und die Schleuser sogar an Land verfolgen dürfen. Doch das dafür nötige Mandat vom Sicherheitsrat der Vereinten Nationen gilt als unwahrscheinlich. Und auch das zerrüttete Libyen, das inzwischen zwei Regierungen für sich beanspruchen, dürfte kaum um militärische Hilfe im Kampf gegen Schleuser bitten.
Für die Besatzung der „Werra“ vergehen die Tage ohne Seenotrettungsfall, ohne Schleuser in Sicht. Tage aus gebanntem Warten, Übungen und einem Zickzackkurs durch das Operationsgebiet. Morgens um sieben Uhr gibt es Frühstück, die Auswahl ist groß. Sogar frisch gebackene Brötchen und Obst stehen bereit. Doch vielen Soldaten ist der Appetit vergangen. Am Abend zuvor hat die Schiffsbesatzung gebannt vor dem Fernseher gesessen, um einen Beitrag über die Mission Eunavfor Med zu sehen – Satellitenempfang sei Dank. In dem Beitrag hieß es, die deutsche Marine schieße jetzt auch auf Flüchtlingsboote.
Kommandant Klatt, der gerne und oft spasst, sitzt mit bitterer Miene in der Offiziersmesse vor seinem Teller. „Wir würden niemals auf ein voll besetztes Flüchtlingsboot schießen“, sagt er. Ist ein Boot entdeckt, dann nähern sich die sogenannten Boarding-Teams der „Werra“ mit Schnellbooten. Auf denen werden die Flüchtlinge dann nach und nach auf den Tender gebracht. Sollte eines dieser beiden Schnellboote angegriffen werden, dann würde der Kapitän den Rückzug befehlen.
Tatsächlich habe die Terrororganisation Islamischer Staat (IS) angekündigt, Anschläge auf die europäischen Kriegsschiffe im südlichen Mittelmeer zu verüben. „Ich halte das aber für unrealistisch“, sagt Klatt. Ein bewaffneter Attentäter würde schließlich auch das Leben der Flüchtlinge gefährden, was diese kaum zulassen würden.
Anstrengender Schiffsalltag
Wie Klatt geht es fast allen an Bord der „Werra“: Kaum einer der Soldaten hätte erwartet, dass es selbst für diesen Einsatz Kritik hagelt, bei dem sie das Risiko eines Anschlags in Kauf nehmen, um das Leben von verzweifelten und verfolgten Menschen zu retten. „Dann wollen wir mal schauen, ob wir heute noch ein paar Flüchtlinge erschießen können“, zischt ein Navigationsoffizier auf der Brücke voller Zynismus. Unten im technischen Leitstand, im Bauch des Schiffes, klagt ein 25-jähriger Obermaat: „Wenn ich die überfüllten Flüchtlingsboote sehe, bin ich schockiert über die Menschenverachtung der Schleuser.“ Und der Smut, der jeden Tag aufs Neue versucht hat, mit seinem Essen die Moral seiner Kameraden zu stärken, schüttelt nur noch den Kopf.
Der Alltag an Bord eines Kriegsschiffes ist anstrengend. Nach fünf Monaten fern der Heimat, größtenteils auf hoher See, mit der Möglichkeit, einmal in der Woche zehn Minuten lang zu telefonieren, und dem fordernden Leben hier, vermag nur eine Gewissheit, die Stimmung anzuheben: In wenigen Tagen wird die „Werra“ abgelöst von der deutlich größeren „Berlin“, einem sogenannten Einsatzgruppenversorger.
Kommandant Klatt hat seinen Frieden mit der Mission schon vor der langen Rückreise nach Kiel gemacht: „Anders als in Afghanistan können wir später in jedem Fall sagen, dass unser Einsatz Sinn gemacht hat, weil wir Menschenleben gerettet haben.“
Am frühen Abend baut Militärpfarrer Lüders auf dem Vorderdeck einen Altar auf. Zwischen Kühlcontainern, Munitionsschränken und den beiden 27-Millimeter-Bordkanonen leuchten Elektrokerzen in der einsetzenden Dämmerung. Lüders hat Schokolade auf dem Altar verteilt und auch eine Flasche Portwein mitgebracht. Doch auch wenn der Geistliche versucht, seiner uniformierten Gemeinde den letzten Gottesdienst auf See zu versüßen: Es sind gerade einmal elf Soldaten zur Andacht erschienen – darunter der Kommandant.
Der Militärpfarrer spricht von Rissen und Erschütterungen in der Welt. „Wir sind monatelang an einem dieser Risse entlanggefahren und haben Menschen gesehen, die alles dahingeben, um in ein Land zu kommen, wo sie sein können, wie sie sind“, sagt Lüders. „Auch wenn Sie mit dem Wort nicht viel anfangen können, aber für die Menschen, die Sie gerettet haben, sind Sie Engel.“ Er wünsche sich, dass die Besatzung der „Werra“ diesen Schatz bewahre und nicht vergesse.
Das Meer ist still an diesem Abend, der Himmel klar, auf der Backbordseite zeichnet sich in der Ferne die Silhouette der Insel Lampedusa ab, die für viele Flüchtlinge schon das rettende Ufer bedeutet hat. Der Falke hat den Tender längst verlassen.
Die Mission Eunavfor Med – und die Aufgaben der Bundeswehr
Auftrag: Die Europäische Union versucht, mit Marinestreitkräften verschiedener Mitgliedsstaaten den Menschenschmuggel von Libyen aus über das Mittelmeer nach Europa zu stoppen und die Schleuser zu fangen. Als Auslöser der Mission Eunavfor Med (European Union Naval Force Mediterranean) gilt das Unglück, bei dem am 19. April ein überfülltes Flüchtlingsboot etwa 130 Kilometer nördlich der libyschen Küste kenterte, mindestens 800 Menschen ertranken.
Laut Bundesverteidigungsministerin Ursula von der Leyen hat für die Bundeswehr die Rettung Schiff- brüchiger Priorität vor der Jagd nach Schleusern. Das gebietet auch das internationale Seerecht. Ausweitung: In der zweiten Phase der Anti-Schleuser-Mission dürfen die Marine-Streitkräfte die Boote von Verdächtigen kontrollieren, zur Not mit Waffengewalt, und mutmaßliche Schleuser festsetzen – allerdings nur außerhalb der Zwölf-Seemeilen-Grenze. Weiterhin findet militärische Aufklärung über die Schleusernetzwerke statt. Flüchtlingsboote werden nach der Rettung zerstört oder abgeschleppt, damit sie nicht noch einmal verwendet werden können. Kommando: Das Oberkommando über Eunavfor Med hat Italien. Neben Deutschland, das sich mit zwei Schiffen am Einsatz beteiligt – dem Versorgungsschiff „Werra“ und der Fregatte „Schleswig-Holstein“ –, stellen auch Spanien, Frankreich, Griechenland und Großbritannien Marineschiffe. Außerdem helfen mehrere Nicht-Regierungsorganisationen mit Schiffen bei der Seenotrettung vor der libyschen Küste. Deutschland: An Bord der beiden deutschen Schiffe sind zusammen rund 320 Soldaten. Das neue Mandat soll den Einsatz von 950 Soldaten erlauben.
Das wären mehr, als derzeit an der größten Auslandsmission der Bundeswehr in Afghanistan teilnehmen. Flüchtlinge: Seit Jahresbeginn haben nach Schätzungen der Internationalen Organisation für Migration rund 350 000 Menschen die Überfahrt versucht, an die 3000 könnten dabei ums Leben gekommen sein. Text: AZ