Um die weißrussische Hauptstadt Minsk würde Angela Merkel normalerweise lieber einen Bogen machen. Seit mehr als 20 Jahren regiert Präsident Alexander Lukaschenko die Ex-Sowjetrepublik mit harter Hand. Das mit Sanktionen belegte Weißrussland gilt als „letzte Diktatur Europas“. Von Anbeginn der Ukraine-Krise schauten die dortigen Staatsmedien verächtlich auf Kiews proeuropäische Maidan-Proteste. Die These: Demokratie führe zu Chaos. Ausgerechnet hier geht es jetzt um den Frieden auf dem Kontinent.
Das Minsker Treffen der Kanzlerin und des Präsidenten von Frankreich, der Ukraine und Russlands am Mittwoch gilt als ein letzter Versuch, ein noch größeres Blutvergießen in der Ukraine zu verhindern. Acht Monate dauern die Kämpfe der ukrainischen Regierungstruppen gegen die prorussischen Separatisten im Osten des Landes schon an. Tausende Menschen starben. Der ukrainische Präsident Petro Poroschenko besucht noch vor seiner Abreise nach Minsk demonstrativ Verletzte in einer Klinik.
Vermittler, Diplomaten und Vertreter der Konfliktparteien hofften bis zuletzt, dass dieser graue Wintertag in Minsk tatsächlich historisch wird und es zu Frieden in der Ukraine kommt. Schon vor der Ankunft der Staatenlenker waren in Minsk die prorussischen Separatisten mit dem ukrainischen Ex-Präsidenten Leonid Kutschma zusammen, um über eine Waffenruhe zu verhandeln. Westliche Diplomaten vermitteln. Auch die Emissäre des Kremls sind in der Stadt.
Was Merkel und der französische Präsident François Hollande Kremlchef Wladimir Putin womöglich für Frieden in der Ukraine anbieten werden, ist offen. Möglicherweise legen sie ihm noch einmal die Bildung einer gemeinsamen Freihandelszone der EU und der eurasischen Wirtschaftsunion aus Russland, Weißrussland, Armenien und Kasachstan nahe. Ob es in Minsk einen Erfolg gibt? Merkel vermied es bis zu ihrer Abreise, zu hohe Erwartungen zu wecken. So sagte ihr Sprecher Steffen Seibert noch am Vormittag in Berlin: „Dass diese Reise stattfindet, bedeutet einen Hoffnungsschimmer, aber auch nicht mehr.“
Sollten die Verhandlungen scheitern, dürfte die Europäische Union sehr schnell die Sanktionen gegen Russland verschärfen. Es werden weiter Menschen in der Ukraine sterben und der Konflikt zwischen Ost und West brisanter. In Washington heißt es, dass US-Präsident Barack Obama dann dem innenpolitischen Druck kaum noch standhalten könnte und auf Forderungen nach Waffenhilfe für Kiew eingehen müsste. Für Merkel eine katastrophale Gewaltspirale.
Obama selbst wolle keine Waffenlieferungen, heißt es. Er greift kurz vor dem Gipfel noch zum Telefon, um mit Putin zu reden. Es ist das erste Gespräch der beiden Politiker seit langem. Obama fordert Putin auf, seine Unterstützung für die prorussischen Separatisten in der Ukraine zu beenden und das Land seinen eigenen Weg gehen lassen – in die EU und in die Nato.
Und Putin betont einmal mehr, dass die Krise nur durch einen innerukrainischen Dialog und ein Ende der Wirtschaftsblockade des Donbass zu beenden sei.
Dass aber Moskau und Washington weiter völlig unterschiedliche Sichtweisen auf die Wurzeln des Konflikts haben, ist aus der Kremlmitteilung zum Telefonat abzulesen. Die Russen haben den US-Amerikanern immer wieder vorgeworfen, bei den blutigen Umbrüchen in der Ukraine Regie zu führen. Dass Scharfmacher in den USA Waffenlieferungen fordern, ist zumindest aus Moskauer Sicht ein Beleg dafür, dass es den USA um eine Eskalation der Krise gehe. Merkel versucht, Putins Denkweise nachzuvollziehen. Sie versteht aber nicht, dass er denkt, dem Westen gehe es nur um Machtdemonstration und Demütigung Russlands. Dem Westen gehe es um die Selbstbestimmung der Länder, ihre territoriale Integrität und Frieden in Europa.