
Von „der großen Tragödie des Jahrhunderts“ sprechen die Vereinten Nationen. Mehr als zwei Millionen Syrer haben sich mittlerweile vor dem bestialischen Morden daheim über die Grenzen gerettet, unter ihnen eine Million Kinder und Jugendliche, die nur noch ein Leben in täglicher Todesangst kannten. Vor zwölf Monaten waren es noch 230 000 Flüchtlinge, seitdem ist ihre Zahl auf das Zehnfache gestiegen – der größte Massenexodus seit dem Völkermord in Ruanda 1994. Jeden Tag machen sich 5000 weitere Menschen auf den Weg. Bis Ende des Jahres rechnet das Flüchtlingshilfswerk UNHCR mit drei Millionen Vertriebenen, zusätzlich zu vier bis fünf Millionen, die als Binnenflüchtlinge im Land herumirren.
„Syrien ist eine beschämende menschliche Katastrophe mit Leiden und Vertreibung, wie sie in der jüngsten Geschichte ohne Beispiel ist“, erklärte der UN-Hochkommissar für Flüchtlinge, Antonio Guterres. „Der einzige Trost ist die Menschlichkeit, die die benachbarten Länder aufbringen, indem sie so viele Menschen aufnehmen und deren Leben retten.“ Der UNHCR-Chef befürchtet gar eine „verlorene Generation“: Er habe in den Zeltlagern Kinder getroffen, die hätten ihre Sprache verloren, könnten nicht mehr richtig schlafen oder zeigten „extrem auffälliges“ Verhalten, ausgelöst durch die Gewalt, die sie erlitten oder gesehen hätten.
Mit 716 000 Menschen beherbergt der Libanon mittlerweile den weitaus größten Teil der Entwurzelten, das entspricht fast 20 Prozent der eigenen Bevölkerung. Die Türkei und Jordanien haben jeweils rund eine halbe Million Menschen in Zeltlagern untergebracht, im Irak sind es 160 000 – die wirklichen Ziffern jedoch dürften in allen Aufnahmeländern weitaus höher liegen. So erlebte der Nordirak, in der aufgewühlten Region bislang ein seltener Hort der Stabilität, in den letzten zwei Wochen den größten Flüchtlingsansturm des gesamten Bürgerkriegs. Über 50 000 syrische Kurden nahmen tagelange Fußmärsche in Kauf, um sich vor den marodierenden Gotteskriegern von El Kaida in Sicherheit zu bringen. „Wir kennen diese Leute nicht, sie tauchten plötzlich bei uns auf und rissen die Macht an sich“, sagte eine der geflohenen Frauen, die ihren 18 Monate alten Sohn während der gesamten Odyssee getragen hat. Andere berichten von Plünderungen und Geiselnahmen der neuen radikalen Herren. „Wir sind alle sehr niedergeschlagen, selbst unsere Kinder beginnen, das Leben zu hassen“, sagen sie.
Auf 1,1 Milliarden Dollar schätzt das UN-Flüchtlingshilfswerk inzwischen den syrischen Finanzbedarf für 2013, von denen jedoch nur 47 Prozent durch Zusagen der internationalen Gemeinschaft gedeckt sind. Am Mittwoch wollen Vertreter der Nachbarländer Syriens in Genf mit dem UNHCR über einen neuen internationalen Hilfsappell beraten. Die Aufnahmeländer bräuchten massive Unterstützung von außen, erklärte UNHCR-Chef Guterres. Würden die Zahlungen nicht deutlich aufgestockt, „wird das Risiko von Instabilität im Nahen Osten stark zunehmen“.
Denn in allen Anrainerstaaten wachsen die Aversionen. Ägypten hat durch die Einführung einer Visapflicht seine Grenzen bereits vor sechs Wochen faktisch dicht gemacht. Seit dem Sturz von Mohammed Mursi läuft in den Medien eine fremdenfeindliche Hetzkampagne gegen die 200 000 Syrer am Nil, die pauschal als fünfte Kolonne der Muslimbrüder denunziert werden. „Libanon wird überschwemmt von Ausländern, sie ruinieren uns“, schimpfte ein Kioskbesitzer im Zentrum von Beirut. Denn die Neuankömmlinge sind unbeliebte Konkurrenten. Sie arbeiten für jeden Hungerlohn, um sich und ihre Familien durchzubringen. Ihre Nachfrage nach Wohnungen treibt die Mieten in die Höhe, ganze Viertel sind inzwischen von Syrern bevölkert.
Die Hisbollah kämpft an der Seite von Baschar al-Assad, während radikale sunnitische Kleriker ihre Anhänger zum Djihad gegen den syrischen Diktator aufrufen. Und so fürchten immer mehr Libanesen, der syrische Konflikt könnte auch ihr Land mit in den Abgrund reißen.
Ziel Deutschland
5000 syrische Flüchtlinge werden in den nächsten Wochen in Deutschland erwartet. Sie haben die Möglichkeit, zwei Jahre hier zu bleiben. Wer hierher kommt, hat das Flüchtlingshilfswerk UNHCR ausgewählt – nach Kriterien, die das Bundesinnenministerium festgelegt hat. Dazu zählen Schutzbedürftigkeit, Familienbindungen nach Deutschland, die Zugehörigkeit zu einer religiösen Minderheit und Qualifikationen der Menschen, die sie in ihrem Gastland ausbauen können. Außerdem: Die Flücht- linge mussten sich bereits bis zum Stichtag 31. März beim UNHCR in Beirut (Libanon) registriert haben. Die Auswahl ist noch nicht abgeschlossen. Nach Angaben des Flüchtlingshilfswerks gilt aber: Alleinstehende Kinder und alleinerziehende Frauen mit Kindern haben Priorität.