zurück
Mesale Tolu ist wieder daheim
Justiz: Die Journalistin Mesale Tolu ist nach ihrer Haft in der Türkei mit ihrem Sohn zurück in Deutschland. Sie durfte ausreisen, obwohl der Terrorprozess gegen sie noch läuft. Warum sie trotzdem wieder nach Istanbul reisen will.
Von Sebastian Mayr und Susanne Güsten
 |  aktualisiert: 11.12.2019 21:41 Uhr

Mit versteinerter Miene und fester Stimme berichtet die Ulmer Journalistin und Übersetzerin Mesale Tolu nach ihrer Landung auf dem Stuttgarter Flughafen von einer monatelangen Tortur in der Türkei. Wie schwer bewaffnete türkische Polizisten in einer Nacht im April 2017 ihre Wohnung gestürmt hätten. Wie sie gewaltsam zu Boden gedrückt, bedroht und beschimpft worden sei. Wie eine Waffe auf ihren kleinen Sohn gerichtet worden sei. Wie ihr in der anschließenden Untersuchungshaft der Zugang zu konsularischer Betreuung verwehrt worden sei.

Mesale Tolu nennt all das, was ihr widerfahren ist, eine „Kette der Ungerechtigkeit“. Die Terrorvorwürfe gegen sie hätten sich die türkischen Behörden aus den Fingern gesogen. Ihr Sohn Serkan, der inzwischen fast vier Jahre alt ist, hatte wochenlang gemeinsam mit ihr im Frauengefängnis im Istanbuler Stadtviertel Bakirköy gelebt. Als Spielzeug hatte er nur einen kleinen Plastikball – mehr hatten die Gefängniswärter nicht erlaubt.

Nach ihrer Ankunft daheim sollen Tolu und ihr Sohn nun erst einmal beim Vater der jungen Frau in Ulm wohnen. Die 33-jährige deutsche Staatsbürgerin sagt, es sei für sie ungewohnt, nach insgesamt 17 Monaten wieder in Deutschland zu sein. Sie wolle nun erstmal Familie und Freunde treffen und alles verarbeiten. Ihr Sohn Serkan müsse in den Kindergarten. Er habe die deutsche Sprache verlernt und müsse alles neu lernen. Sie hoffe, dass ihre Familie bald wieder vereint sei, sagte sie mit Blick auf die weiterhin bestehende Ausreisesperre für ihren Mann Suat Corlu, der türkischer Staatsbürger ist.

Mesale Tolu will trotz der langen Gefangenschaft für ihren Prozess wieder in die Türkei reisen. Der nächste Verhandlungstermin ist für den 16. Oktober angesetzt. Sie wolle teilnehmen, weil sie ihre Unschuld beweisen wolle und der Meinung sei, dass sie im Recht ist. Sie gehe nicht davon aus, nochmals inhaftiert zu werden. „Natürlich ist es eine willkürliche Herrschaft, die regiert, die wieder alles machen kann. Aber ich denke, ich bin einfach erst mal ein bisschen mutig“, sagt Tolu. Sie werde sich aber nicht blind einer Gefahr aussetzen. Eben wegen ihrem kleinen Sohn, an den sie denken müsse.

Über ihre Rückkehr in die Heimat könne sie sich nicht wirklich freuen, sagt die gebürtige Ulmerin. „Weil ich weiß, dass sich in dem Land, in dem ich eingesperrt war, nichts verändert hat.“ Sie sei zwar wieder hier, aber Hunderte Journalisten, Oppositionelle, Anwälte und Studenten seien noch in der Türkei inhaftiert. Tolu kündigte an, sich weiter für diese Menschen einsetzen zu wollen.

Die Journalistin, die für die linke Nachrichtenagentur Etha arbeitete, war in der Türkei mehr als sieben Monate lang wegen Terrorvorwürfen im Gefängnis. Die Türkei wirft ihr Unterstützung der verbotenen linksextremen Gruppe MLKP vor. Nach ihrer Freilassung im Dezember durfte sie zunächst nicht ausreisen. Kraft schöpfte sie unter anderem aus der großen Unterstützung aus der Heimat, die sie während der Haft und auch hinterher erfahren hat.

Am 22. Dezember 2017 bespielsweise, als die frohe Botschaft über ihre Freilassung im Club Orange in Ulm gefeiert wurde. Es herrscht Volksfeststimmung. CDU-Stadtrat Thomas Kienle und die Linke-Bundestagsabgeordnete Heike Hänsel stehen auf der niedrigen Bühne. Sie sind sich einig in dem, was sie sagen: Jetzt muss gefeiert werden. Seit vier Tagen ist Mesale Tolu frei, jetzt wird sie über Videotelefonie nach Ulm zugeschaltet.

Konservative und Linke, Freunde und Familie, Stadträte und Lehrer, Migranten und Alteingesessene: Die Unterstützer aus Ulm und Neu-Ulm sind zahlreich und unterschiedlich. Wenn es um Mesale Tolu geht, kommen sie zusammen, aus vielen Ecken der Gesellschaft. Sie demonstrieren für die Journalistin. Der Neu-Ulmer und der Ulmer Stadtrat fordern in einer Resolution die Freilassung der Frau. Zu einem Solidaritätskonzert im Ulmer Kornhaus im Oktober kommen 400 Zuhörer. Fast alles findet in Ulm statt. Dass die Familie Tolu eigentlich in Neu-Ulm lebt, geht bisweilen unter.

Als Mesale Tolus Gesicht auf der Leinwand zu sehen ist, brandet im Club Orange Jubel auf. Tolu lacht, winkt und wirft ihrer früheren Lehrerin Angelika Lanninger eine Kusshand zu. Lanninger hatte Tolu am Ulmer Anna-Essinger-Gymnasium unterrichtet. Jahre später gehört die zierliche Frau zu den unermüdlichen Kämpfern für ihre frühere Schülerin. Lanninger stellt eine Petition ins Internet, in der sie die Freilassung der Journalistin fordert, und schreibt an Außenminister Sigmar Gabriel. Als ihre frühere Schülerin das Frauengefängnis verlassen darf, passt Lanninger die Petition an. Die soll nun eine Plattform sein, auf der alle Unterstützer ihre Solidarität mit der Neu-Ulmerin ausdrücken können. Mehr als 112 000 Menschen haben das getan.

Angelika Lanninger gehört zu denen, die für Mesale Tolu auf die Straße gehen. 30 Wochen lang treffen sich die Unterstützer an der Ulmer Hirschstraße, kaum weiter als 100 Meter vom Münster entfernt. Jeden Freitag um 18 Uhr stehen sie dort, bei Hitze und bei strömendem Regen.

Cengiz Dogan ist einer der Sprecher des „Solidaritätskreises Freiheit für Mesale Tolu“. Der Elektroingenieur aus Laichingen kommt zu jeder der Kundgebungen nach Ulm. Bevor Tolu in Istanbul von einer Spezialeinheit festgenommen wird, kannte er die Familie nicht. Doch das, was mit der jungen Frau passiert, will Dogan nicht einfach hinnehmen. Der Unternehmer schließt sich mit den Freunden und der Familie zusammen. Sie organisieren die Demonstrationen und sammeln Geld, um Essen und Spielsachen für Mesales Sohn Serkan zu kaufen.

Nicht alles läuft reibungslos. Cem Toprak, offizieller Veranstalter der Kundgebungen, steht im Mai 2018 vor dem Ulmer Amtsgericht. Er will eine Geldstrafe nicht akzeptieren. Die ist ihm aufgebrummt worden, weil die Ordner bei vier Demonstrationen keine Westen oder Armbinden getragen haben. Topraks Einspruch hat keinen Erfolg. Er muss 1200 Euro Strafe bezahlen. Geld bereitet auch der Familie Tolu Sorgen. Mesales Vater Ali Riza Tolu wollte seinen Ruhestand eigentlich in der Türkei verbringen. Statt dessen pendelt er zwischen Neu-Ulm und Istanbul. Die Reisen sind teuer.

Jetzt nehmen sie ein Ende. Die Familie holt Mesale und ihren Vater, der mit ihr in der Türkei war, am Stuttgarter Flughafen ab. Die Politiker der beiden Donaustädte halten sich zurück. „Wir wollen uns nicht aufdrängen“, sagt eine Sprecherin der Stadt Neu-Ulm. „Jetzt geht es erst mal darum, dass sie ankommt“, betont Ulms Oberbürgermeister Gunter Czisch. Beide Städte haben die Familie eingeladen. „Wir freuen uns, dass sie heimkommt. Den weiteren Zeitplan bestimmt sie“, sagt Czisch. Damit, dass Mesale so plötzlich zurückdürfen würde, hat keiner gerechnet. „Sie will erst einmal ihre Ruhe haben mit ihrem Kind“, sagt Helferkreis-Sprecher Dogan.

Auch an der Donau dürfte Mesale Tolu nicht nur Freunde haben. Braucht sie Schutz? Ein Sprecher des zuständigen Kemptener Polizeipräsidiums blockt alle Fragen ab: „Zu Personenschutzmaßnahmen sagen wir grundsätzlich nichts.“

In ihren letzten Tagen in der Türkei wahrte Mesale Tolu weitgehend Schweigen. Nur einmal platzt ihr der Kragen, als die Oppositionszeitung „Cumhuriyet“ im Aufmacher über die Aufhebung ihrer Ausreisesperre und ihre bevorstehende Ausreise berichtet. „Der Pass macht den Unterschied“, titelt die Zeitung auf der Seite eins neben ihrem Konterfei. Daneben stellt das Blatt die Fotos und Geschichten prominenter Türken, die aus politischen Gründen hinter Gittern sitzen und nicht auf Freilassung hoffen können, so wie der Kunstmäzen Osman Kavala und der Oppositionsabgeordnete Enis Berberoglu.

„Cumhuriyet“ solle erklären, was das für ein Unterschied sein solle, fordert Tolu auf Twitter: Immerhin sei sie acht Monate lang im Gefängnis gesessen und eineinhalb Jahre von ihrer Heimat ferngehalten worden, schreibt sie und forderte von der Zeitung eine Richtigstellung. Bei türkischen Twitter-Nutzern kommt das schlecht an. Schließlich entspreche es den Tatsachen, dass Tolu dank der Unterstützung des deutschen Staates frei sei, während die türkischen Gefangenen keine Aussicht auf Freiheit hätten, antworten mehrere Nutzer: Das sei eben der Unterschied. Tolu ist sich dessen wohl bewusst, verweist sie doch am Tag nach Bekanntwerden ihrer Ausreiseerlaubnis ebenfalls per Twitter darauf, dass noch mehr als 150 Journalisten in der Türkei hinter Gittern sitzen, so wie sie es am Stuttgarter Flughafen wieder tut. „Solange die Journalist*innen eingesperrt sind, kann man nicht von einer Verbesserung hinsichtlich der Presse- und Meinungsfreiheit sprechen“, schreibt sie.

Am 28. September wird der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan in Berlin von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier mit militärischen Ehren empfangen. Er wird auch Kanzlerin Angela Merkel treffen. Dass Tolu nun das Land verlassen durfte, geht wohl auf eine leichte Verbesserung der deutsch-türkischen Beziehungen zurück, aber besonders auf das Bedürfnis der Türkei, sich wieder an Europa anzunähern angesichts des schweren Streits mit den USA. Von diplomatischen Abmachungen zu ihrer Freilassung wisse sie aber nichts, sagt Tolu.

Mit Informationen von dpa

Diese Deutschen sind in der Türkei im Gefängnis

Die Namen Deniz Yücel, Peter Steudtner und Mesale Tolu sind vielen bekannt, sie alle waren unter Terrorvorwürfen in der Türkei inhaftiert. Inzwischen sind sie frei, aber es sitzen nach offiziellen Angaben noch mindestens sieben deutsche Staatsbürger „aus politischen Gründen“ in türkischen Gefängnissen. Diese sechs sind namentlich bekannt:

Ilhami A. aus Hamburg: Der Taxifahrer wurde Mitte August in der osttürkischen Provinz Elazig verhaftet. Der Vorwurf lautet Propaganda für die verbotene kurdische Arbeiterpartei PKK.

Dennis E. aus Hamburg: Auch im Fall Dennis E. geht es um Facebook-Posts und den Vorwurf der Terrorpropaganda für die PKK. Die türkische Polizei nahm den 55-Jährigen Ende Juli bei einem Besuch im südtürkischen Iskenderun fest, wo er auch inhaftiert ist.

Hozan Cane aus Köln: Polizisten hielten vor den Wahlen Ende Juni einen Bus der pro-kurdischen Oppositionspartei HDP an und nahmen die kurdischstämmige Sängerin mit dem Künstlernamen Hozan Cane mit. Cane hatte im westtürkischen Edirne eine Wahlkampfveranstaltung der HDP unterstützt. Ihr wird die Mitgliedschaft in der verbotenen PKK vorgeworfen.

Adil Demirci aus Köln: Der Sozialarbeiter war Mitte April in Istanbul festgenommen worden. Er schrieb aus Deutschland für die linke Nachrichtenagentur Etha, für die auch Mesale Tolu arbeitete. Wie Tolu wird Demirci Mitgliedschaft in der linksextremen Marxistisch-Leninistischen Kommunistischen Partei vorgeworfen. Die MLKP gilt in der Türkei als Terrororganisation.

Patrick K. aus Gießen: Er war Mitte März nach Angaben der staatlichen Nachrichtenagentur Anadolu im türkisch-syrischen Grenzgebiet festgenommen worden. Anadolu schreibt, er habe sich der Kurdenmiliz YPG anschließen wollen.

Enver Altayli: Seit einem Jahr sitzt Altayli ohne Anklage in Einzelhaft, seine Familie macht sich große Sorgen um seine Gesundheit. Altayli ist Jurist und arbeitete in den 60er Jahren für den türkischen Geheimdienst. Im August 2017 war er in Antalya festgenommen worden, wo die Familie eine Ferienanlage betreibt. Ihm wird Unterstützung der Gülen-Bewegung vorgeworfen, die in der Türkei als Terrororganisation eingestuft ist. dpa

Mesale Tolu und Suat Corlu       -  Mesale Tolu mit ihrem Mann Suat Corlu in Istanbul
Foto: Linda Say, dpa | Mesale Tolu mit ihrem Mann Suat Corlu in Istanbul
Tolu-Warten       -  Vater Ali Riza Tolu und Großmutter Güley Tolu in Stuttgart
Foto: Foto:Ludger Möllers | Vater Ali Riza Tolu und Großmutter Güley Tolu in Stuttgart
 
Themen & Autoren / Autorinnen
Bundeskanzlerin Angela Merkel
Demonstrationen
Deniz Yücel
Festnahmen
Flughäfen
Frank-Walter Steinmeier
Justizvollzugsanstalten
Nachrichtenagenturen
PKK
Petitionen
Recep Tayyip Erdogan
Sigmar Gabriel
Terrororganisationen und Terrorgruppen
Twitter
Lädt

Damit Sie Schlagwörter zu "Meine Themen" hinzufügen können, müssen Sie sich anmelden.

Anmelden Jetzt registrieren

Das folgende Schlagwort zu „Meine Themen“ hinzufügen:

Sie haben bereits von 50 Themen gewählt

bearbeiten

Sie folgen diesem Thema bereits.

entfernen