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Merkel schont Hollande
Die Kanzlerin schweigt zu Frankreichs Plänen für einen raschen Abzug aus Afghanistan
Deutsch-französische Freundschaft: François Hollande und Angela Merkel beim NATO-Gipfel in Chicago.
Foto: dpa | Deutsch-französische Freundschaft: François Hollande und Angela Merkel beim NATO-Gipfel in Chicago.
Von unserem Korrespondenten Jens Schmitz
 |  aktualisiert: 21.05.2012 19:15 Uhr

Dankbarkeit drinnen, Zorn auf der Straße: Während die Spitzen der 28 Mitgliedsstaaten zur Eröffnung des zweitägigen NATO-Gipfels in Chicago eine Schweigeminute für die Toten und Verletzten ihrer Streitkräfte einlegten, kam es wenige Blöcke entfernt zu Zusammenstößen zwischen Demonstranten und der Polizei. Tausende Aktivisten bezichtigten das Verteidigungsbündnis des organisierten Mordes, Afghanistan-Veteranen warfen ihre Auszeichnungen zu Boden. Als Demonstranten versuchten, die Sicherheitsabsperrung um das Konferenzgelände zu durchbrechen, setzte die Polizei Schlagstöcke ein. Mehrere Aktivisten und Polizisten wurden verletzt.

Auf dem Teppich des McCormick Place Convention Center begrüßte derweil US-Präsident Barack Obama die Gipfelteilnehmer in seiner Heimatstadt. Das Bündnis sei seit 65 Jahren „der Grundstein unserer gemeinsamen Sicherheit“, sagte er und umriss die beiden Hauptziele der Zusammenkunft: die Planung für die Zukunft Afghanistans nach dem Abzug der internationalen Kampftruppen bis Ende 2014 und die künftige Struktur der NATO in Zeiten knapper Kassen.

Für Irritationen sorgte der neue französische Präsident François Hollande, der gemäß eines Wahlversprechens den vorzeitigen Abzug der 3300 französischen Soldaten Ende 2012 ankündigte. An Ausbildungsaufgaben will er sich weiterhin beteiligen.

Von Bundeskanzlerin Angela Merkel war keinerlei Kritik an Hollande zu hören. Ihre mitgereisten Minister machten ihrem Ärger dagegen Luft. Außenminister Guido Westerwelle warnte offen vor einem Abzugswettlauf. Sollte es dazu kommen, würde das den Kampf gegen Terrorismus schwächen. „Deswegen sollten alle Beteiligten klug genug sein, bei dem zu bleiben, was gemeinsam abgesprochen und abgestimmt worden ist.“ Verteidigungsminister Thomas de Maiziere sagte an die Adresse der Franzosen: „Schöner wäre, sie hätten das, was sie den Wählern versprochen haben, nicht gesagt.“

Merkel hebt sich die Energie für Auseinandersetzungen wohl für Themen auf, die ihr wichtiger sind – zu Hause in Deutschland und in Europa. Das zweite Zusammentreffen mit Hollande auf internationaler Bühne findet schon am Mittwoch statt. Beim EU-Sondergipfel in Brüssel könnte es bereits handfesten Streit geben. Hollande will eine Diskussion über gemeinsame Anleihen für Euroländer anzetteln. Merkel ist strikt gegen die Eurobonds.

Die erste Sitzung widmeten die Staats- und Regierungschefs der NATO allerdings nicht Afghanistan, sondern dem Raketenabwehrschild, der Europa gegen Bedrohungen etwa aus dem Iran schützen soll: Nach erfolgreichen Tests vergangenen Monat in Ramstein nahm das Bündnis nun die ersten Komponenten offiziell in Betrieb, trotz teils heftiger Proteste aus Russland, das das strategische Gleichgewicht bedroht sieht. Das System soll bis spätestens 2020 voll einsatzfähig sein.

Der Gipfel verabschiedete eine Erklärung über die Notwendigkeit von Atomwaffen zum Ziel der Abschreckung. Die Teilnehmer wollten sich aber auch über ein Abrüstungsangebot an Russland verständigen.

Im Rahmen des Projekts „Smart Defence“ wollen die NATO-Staaten künftig „mehr Sicherheit für weniger Geld“ schaffen (Generalsekretär Anders Rasmussen). Als Musterbeispiel dafür gelten die fünf Überwachungsdrohnen Global Hawk. Einem Bericht des „Spiegel“ zufolge soll Deutschland dabei für 483 Millionen Euro aufkommen, das wären gut 30 Prozent der Gesamtkosten. Washington drängt insgesamt auf mehr Beteiligung der übrigen Staaten, gerade der wohlhabenden. Die finanzielle und militärische Hauptlast der NATO-Einsätze wird traditionell von den USA getragen.

Mit Afghanistan wollten sich die Konferenzteilnehmer am zweiten Sitzungstag befassen, dann unter Teilnahme von mehr als 60 Nationen und Organisationen, die vor Ort zusammenarbeiten. Hauptsächlich sollte es dabei um die Aufteilung der Kosten für die afghanischen Sicherheitskräfte gehen, die das Land nach 2014 eigenständig stabilisieren sollen. Die Zahl von dann 325 000 einheimischen Militärs und Polizisten soll zwar bis 2017 auf 228 500 sinken. Die NATO rechnet aber zunächst mit einem jährlichen Bedarf von 4,1 Milliarden Dollar. Das sind 3,2 Milliarden Euro, von denen die USA gern eine aus Europa kommen sähen. Deutschland hat 150 Millionen versprochen.

Über die Kosten der Förderung der zivilen Strukturen in Afghanistan soll im Juli bei einer Geberkonferenz in Tokio entschieden werden. Dabei wird es um den Ausbau des Handels in der Region gehen, um den Kampf gegen Drogen und die Vermeidung ethnischer Konflikte. Nach wie vor bemüht sich die NATO um Kontakte zu gesprächsbereiten Taliban. Derzeit bezahlt Deutschland 430 Millionen Euro pro Jahr für zivile Projekte in Afghanistan. Mit Material von dpa

Die wichtigsten Beschlüsse

Atomwaffen

Die 28 Mitgliedstaaten haben bei ihrem Gipfeltreffen in Chicago atomare Waffen als „Kernelement“ der Abschreckung bezeichnet, gleichzeitig aber betont, dass das Risiko eines Einsatzes „extrem gering“ sei. Sie sollen auch nicht gegen Länder eingesetzt werden, die nicht selbst über Kernwaffen verfügen und den Sperrvertrag unterschrieben haben. Schätzungen zufolge halten die USA in Europa etwa 200 Atombomben vor, davon zehn bis 20 in Deutschland. Russland hat etwa 2000 allein im Westen des Landes stationiert.

 

Raketenschild

Während des NATO-Gipfels wurden mit Abwehrraketen ausgestattete US-Militärschiffe auf einer Marinebasis im spanischen Rota an einer Radar-Überwachung in der Türkei angeschlossen und mit der Kommandozentrale auf dem NATO-Stützpunkt in Ramstein in der Pfalz verbunden. Von dort aus wird künftig die gesamte Abwehr gesteuert. Damit ist der Schild scharfgeschaltet. In der nächsten Phase kommen weitere Bestandteile des Systems in Polen und Rumänien hinzu. Bis 2020 werden neue Abwehrraketen eingefügt, die auch Interkontinental-Geschosse abfangen sollen. Bei denen beträgt die Vorwarnzeit nämlich weniger als 20 Minuten.

 

Verärgerung in Russland

Seitdem Wladimir Putin wieder auf dem Stuhl des Präsidenten in Moskau sitzt, verschärft sich die Kontroverse. Erst vor wenigen Tagen wiederholte der russische Generalstab seine Drohungen, als Gegenmaßnahmen Abwehrraketen in Kaliningrad zu installieren. Beiden Seiten bleibt aber noch etwas Zeit, um einen Kompromiss zu finden. Im Kreml fürchtet man die letzten Ausbauphasen des NATO-Systems. Die Allianz hat in Chicago ihre Einladung an Russland wiederholt, den Abwehrschild gemeinsam zu betreiben.

 

Aufrüstung

Es geht vor allem um die Anschaffung neuer „Super-Drohnen“ vom Typ „Global Hawk“ bis 2016. Dabei handelt es sich um unbemannte Flugzeuge, die bis zu 32 Stunden in 18 Kilometern Höhe unterwegs sein können, um Bodenbewegungen von Streitkräften zu überwachen. Die Genauigkeit ist angeblich so hoch, dass jede Bewegung einer einzigen Person erfasst werden kann. Die fünf Drohnen kosten weit über eine Milliarde Dollar. 13 NATO-Staaten, darunter Deutschland, teilen sich die Kosten. Das Projekt ist ein Ergebnis der großen Defizite während des Libyen-Krieges. Damals hatte man eklatante Lücken in der Luftaufklärung festgestellt, die nur durch Rückgriff auf US-Einrichtungen ausgeglichen werden konnten. Mit dem neuen System will die NATO auch bei der Lufterfassung unabhängiger werden.

 

Knappe Finanzen

Die NATO hat sich in Chicago auf einen neuen Weg verständigt: Smart Defense (kluge Verteidigung) heißt das Programm und bedeutet, dass die Mitgliedsstaaten ihre Rüstungskäufe künftig untereinander abstimmen, damit nicht jeder alles vorhalten muss. Für insgesamt 20 Projekte (Drohnen, medizinische Betreuung von Soldaten, Betankung von Flugzeugen) wurden jetzt Verträge unterzeichnet. Dadurch können erhebliche Mittel gespart werden, denn natürlich habe alle Bündnispartner das Problem leerer Staatskassen. TEXT: DRE

 
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