Forscher haben eine Art Jungbrunnen entwickelt: Hautzellen eines Menschen werden zu jungen Nervenzellen umgewandelt. Aus Schwanzzellen einer Maus entsteht ein komplettes Jungtier. Dazu programmieren Wissenschaftler die Zellen zunächst in eine Art Embryonalzustand zurück und lenken ihre Entwicklung dann in die gewünschte Richtung.
Erst vor sechs Jahren veröffentlichte der diesjährige Medizin-Nobelpreisträger Shinya Yamanaka (50) von der japanischen Universität Kyoto die Technik dazu. Er stützt sich auf Erkenntnisse des Briten John Gurdon (79) von der Universität Cambridge. Beide haben jetzt den Nobelpreis für Medizin erhalten.
Das Ziel des neuen Verfahrens: Die verjüngten Zellen sollen zerschlissenes Gewebe ersetzen oder als Versuchsobjekte für die Forschung dienen. Eine Heilung von Patienten mit Alzheimer, Diabetes oder anderen Krankheiten ist aber noch weit entfernt.
Gurdon steckt vor mehr als einem halben Jahrhundert das Erbgut einer ausgewachsenen Froschzelle in eine entkernte Eizelle – mit dem Ergebnis, dass die entstandene Zelle embryonale Eigenschaften hat. Ausgerechnet im Geburtsjahr von Yamanaka, 1962, revolutioniert Gurdon gegen viele Widerstände das damalige Forscherwissen mit dem Beweis, dass erwachsene Zellen alle ihre Fähigkeiten bewahren.
Auch wenn sie etwa als Zellen in Haut oder Haaren ausbildet sind, können sie zurück in eine Art Embryonalstadium gelangen. Zudem klonte Gurdon erstmals ein Tier: einen Frosch und damit den Vorgänger von Klonschaft Dolly.
Klontechniken beim Menschen sind ethisch höchst umstritten. In vielen Ländern – auch Deutschland – dürfen auf diese Weise auch keine Stammzellen gewonnen werden. Im Jahr 2006 gelingt es Yamanaka zusammen mit dem Japaner Kazutoshi Takahashi, dies Verfahren zu umgehen. Nach vielen Versuchen findet er vier Kontrollgene, die er in Mäusezellen einschleust.
Diese setzen eine Reaktion in Gang, so dass sich die Zellen bis zum Embryonalstadium hin verjüngen. Das Ergebnis nennt er induzierte pluripotente Stammzellen (iPS-Zellen). Allerdings ist der Einsatz von Genen in das Erbgut immer mit einem Krebsrisiko verbunden, eines der Gene galt sogar als krebsverdächtig. Doch die Forschung entwickelt sich rasant: Schritt für Schritt können die Forscher auf ein Kontrollgen nach dem anderen verzichten, um die iPS-Zellen herzustellen. Im Februar 2009 präsentiert der Münsteraner Professor Hans Schöler iPS-Zellen von Mäusen, die er nur mithilfe eines Kontrollgens aus Nervenstammzellen gewonnen hatte.
Im April 2009 nutzt ein deutsch-amerikanisches Team, darunter Schöler, nur noch Kontrolleiweiße, um die Hautzellen von Mäusen zurückzuprogrammieren. Die Forscher nennen ihr Produkt piPS-Zellen (protein-induced pluripotent stem cells). Damit ist das zusätzliche Krebsrisiko ausgeschlossen, das beim Einsatz von neuen Genen besteht.
Im September 2009 schaffen chinesische Forscher aus den Zellen einer Maus sogar lebende Nachkommen. 2011 gelingt es Jürgen Hescheler (Köln) und Karl-Ludwig Laugwitz (München), iPS-Zellen von Patienten mit einer Augenerkrankung zu gewinnen.
Das Verfahren eröffne ungeahnte Perspektiven für die Medizin, sagte der Bonner Stammzellforscher Professor Oliver Brüstle. „Erkrankungen und Wirkstoffe können nun direkt und in vielen Fällen erstmals an den jeweils betroffenen menschlichen Zellen studiert werden. Und für den Zellersatz können auf diesem Weg Spenderzellen ohne Risiko von Abstoßungsreaktionen gewonnen werden.“
Thomas Perlmann vom Nobelkomitee begründete die Entscheidung: „Die beiden Preisträger haben völlig neue Felder für die Entwicklung von medizinischen Präparaten eröffnet.“ Sein Kollege Urban Lendahl ergänzte: „Es ist noch zu früh zu sagen, wann die Erkenntnisse in der Zelltherapie umgesetzt werden können. Dank ihrer Arbeit wissen wir jetzt, dass die Zellentwicklung keine Einbahnstraße ist.“
Die Preisträger
Shinya Yamanaka wollte kranken Menschen helfen. Also wurde er Arzt. Doch ihm fehlte das Talent zum Chirurgen, wie der Japaner in einem Interview verriet. Deshalb wechselte er in die Stammzellforschung und revolutionierte diese 2006 mit einer bahnbrechenden Entdeckung. Zahlreiche Ehrungen und Auszeichnungen hat der 50-Jährige seither für seine Forschung erhalten. Seit Montag gehört der Medizin-Nobelpreis dazu.
Weggefährten beschreiben den 50-Jährigen als sachlich und bescheiden, aber auch mutig und beharrlich. „Er ist ein ruhiger, zurückhaltender Mensch, sehr bestimmt, hat klare Ideen und ist natürlich extrem innovativ“, sagt Andreas Trumpp vom Krebsforschungszentrum in Heidelberg. John Gurdon zeigte bereits vor 50 Jahren, dass sich erwachsene Zellen ins Stadium von Stammzellen zurückversetzen lassen. Erst über Umwege war er zur Naturwissenschaft gekommen. Anfangs belegte er Griechisch und Latein. „Mein echtes Interesse galt immer Insekten und solchen Dingen“, sagt der heute 79-Jährige. Schließlich wechselte er zur Zoologie. Heute arbeitet Gurdon in dem nach ihm benannten Institut an der Universität Cambridge. „Er ist ein gelehrter englischer Gentleman“, sagt ein Kollege.
Fotos: rtr/ Text: dpa