
Ob Theresa May tatsächlich eine Revolte abwenden konnte, wird sie erst am heutigen Mittwoch erfahren. Doch die britische Premierministerin startete gestern einen beinahe verzweifelten Versuch, die angesichts der tickenden Uhr ungeduldig werdenden Rebellen in der eigenen Partei zu besänftigen und versprach Zugeständnisse. Wieder einmal.
Nur dieses Mal wandte sie sich zur Abwechslung nicht an die lautstarken Brexit-Hardliner, sondern an all jene in den konservativen Reihen, die befürchten, Großbritannien könnte ohne Abkommen aus der EU scheiden. Nun hat May eine Abstimmung über eine Verschiebung des Brexits in Aussicht gestellt. Wird das reichen, um eine weitere politische Krise im ohnehin krisengeschüttelten Königreich zu verhindern?
In Teilen nachgegeben
Seit Wochen fordern etliche Abgeordneten einen Aufschub, um das No-Deal-Szenario, vor dem insbesondere die Wirtschaft massiv warnt, auszuschließen. Jetzt also gab May zumindest in einigen Teilen nach. In einem Statement im Unterhaus kündigte sie an, die Parlamentarier bis zum 12. März erneut über den zwischen London und Brüssel ausgehandelten Deal abstimmen zu lassen.
Im Januar hatte die Regierungschefin eine historische Schlappe im in der Europafrage völlig zerstrittenen Parlament erlitten. Seitdem versucht sie, bei der EU Änderungen zu erreichen und die verschiedenen Lager in London auf einen Kompromiss einzuschwören. Bislang ohne Erfolg. Sollte es jedoch in zwei Wochen abermals zu einer Niederlage kommen, möchte May in einem nächsten Schritt dem Parlament die Wahl geben, ob das Königreich ohne Abkommen aus der Staatengemeinschaft scheiden soll. Derzeit gibt es keine Mehrheit für einen ungeregelten Brexit. Lehnt das Unterhaus auch diese Option ab, will die Premierministerin über eine Verschiebung des Austrittstermins am 29. März abstimmen lassen. Würden sich die meisten Volksvertreter dafür aussprechen, müsste die britische Regierung die EU um eine Verzögerung bitten. Am Montag hatte sich Ratspräsident Donald Tusk offen für diese Möglichkeit gezeigt. Was dagegen passiert, wenn das Parlament auch den letzten Weg ausschlägt, ist offen.
Vor Mays Intervention hatten Medien berichtet, dass bis zu 15 Parlamentarische Staatssekretäre gewillt seien, von ihren Ämtern zurückzutreten, sollte May ihr Spiel auf Zeit fortführen, ohne einen chaotischen Brexit auszuschließen. Derweil betonen Beobachter, dass mit einer Verschiebung keineswegs das Problem gelöst sei. Westminster schiebe es vielmehr weiter vor sich her, so die Kritik.
In der Realität angekommen
In dieser Woche ende die Ära der Einhörner auf der Insel und damit die Träumereien sowohl von Brexit-Anhängern als auch Brexit-Gegnern, kommentierte David Henig, Handelsexperte und ehemaliger Regierungsberater. Nun schlage in London die Realität ein. Das Problem: Selbst die einzelnen Lager sind mittlerweile tief gespalten in ihren Forderungen, wie es weitergehen soll. Eine Einigung auf einen mehrheitsfähigen Kompromiss scheint weit entfernt.
Der Druck auf May kam nicht nur aus ihrer Fraktion, sondern auch von der Opposition. In einer überraschenden Kehrtwende stellte sich am Montagabend die Labour-Führung unter Jeremy Corbyn hinter die Forderung nach einem zweiten Referendum. Zunächst aber wollten die Sozialdemokraten dafür kämpfen, den „schädlichen Tory-Brexit“ zu verhindern und in ihrem Sinne zu ändern.
Der Antrag, den Labour am heutigen Mittwoch ins Parlament einbringen will, sieht vor, dass Großbritannien dauerhaft in einer Zollunion mit der EU bleibt und eng an den Binnenmarkt angelehnt ist. Es handele sich um „einen glaubwürdigen Plan“, der das Land zusammenbringen könne, Gewissheit liefern sowie Arbeitsplätze und die Industrie schützen würde, sagte Corbyn am gestrigen Dienstag im Parlament.
Bislang hatte Corbyn ein zweites Referendum stets abgelehnt, obwohl sowohl einige Kollegen als auch viele Mitglieder an der Basis dafür warben. Nachdem in der vergangenen Woche neun Abgeordnete die Partei unter anderem aus Protest gegen den Brexit-Kurs von Labour verlassen hatten – acht von ihnen gründeten die „Unabhängige Gruppe“ – , geriet die Führung unter massiven Druck.
Um einen Exodus zu vermeiden und weitere Parlamentarier vom Überlaufen abzuhalten, gab Corbyn schlussendlich nach, auch wenn bislang nicht klar ist, wie sich der linke Oppositionschef ein zweites Referendum genau vorstellt und welche Optionen zur Abstimmung stehen würden.