Sie kommen über die staubige Ebene, viele haben nicht mehr retten können, als die Kleidung, die sie am Leib tragen: Rund hunderttausend Kurden aus Syrien sind am Wochenende auf der Flucht vor der Gewalt der Dschihadisten-Miliz „Islamischer Staat“ (IS) in die benachbarte Türkei geströmt. Gefechte zwischen dem IS und Verbänden der syrischen Kurden toben nur rund 15 Kilometer von der Grenze entfernt, einige Flüchtlinge berichteten von Enthauptungen in Dörfern, die vom IS erobert wurden. Kurdenpolitiker warfen Ankara vor, trotz der Gefahr jede Unterstützung für die syrischen Kurden im Kampf gegen den IS zu verhindern und so den Extremisten zu helfen.
Fast 50 türkische Geiseln, die im Juni bei der Erstürmung des türkischen Generalkonsulats im nordirakischen Mossul durch den IS in die Gewalt der Extremisten gerieten, kehrten am Samstag in die Türkei zurück. Präsident Recep Tayyip Erdogan sprach von einem „Erfolg der Diplomatie“ – demnach hat der türkische Geheimdienst MIT die Freilassung der Geiseln mit dem IS ausgehandelt.
Die große Frage lautet, welche Gegenleistung die Türkei erbracht hat. Dem IS zufolge sagte die Türkei in den Verhandlungen zu, sich nicht an den geplanten westlichen Militärschlägen gegen die Dschihadisten in Syrien zu beteiligen. In anderen unbestätigten Berichten hieß es, die Türkei habe dem IS freie Hand bei der Eroberung der syrischen Grenzstadt Ayn al-Arab – auf Kurdisch: Kobane – zugesagt. Seit Tagen greift der IS die Einheiten der syrischen Kurden an der Grenze zur Türkei bei Kobane an und treibt damit Zehntausende Menschen in die Flucht in die Türkei. Nach UN-Angaben könnten in den kommenden Tagen mehrere Hunderttausend weitere Menschen in der Türkei ankommen.
Mit der Offensive bei Kobane will der IS seine Macht in der Grenzregion ausbauen, wo die syrischen Kurden in den vergangenen Jahren eine inoffizielle Autonomiezone eingerichtet haben. In der Türkei rief die kurdische Rebellengruppe PKK ihr Anhänger auf, über die Grenze nach Syrien zu gehen und gegen den IS zu kämpfen. Mehrere Hundert bewaffnete Rebellen sollen bereits in Kobane angekommen sein.
Am Sonntag brachen auf der türkischen Seite der Grenze heftige Auseinandersetzungen zwischen den türkischen Sicherheitskräften und Kurden aus, die nach Syrien wollten. Dabei wurden Wasserwerfer und Tränengas eingesetzt. Die kurdische Parlamentsabgeordnete Aysel Tugluk warf der türkischen Regierung im Fernsehsender IMC vor, Hilfe für die syrischen Kurden blockieren zu wollen. Tugluks Kollegin Ayla Akat Ata zitierte Berichte, wonach Waffen für den IS aus der Türkei in Zügen nach Syrien geschafft worden seien.
Ankara weist den Vorwurf einer Unterstützung für den IS strikt zurück. Die Lage an der Grenze bei Kobane dürfte den Verdacht einer heimlichen Zusammenarbeit jedoch neu anfachen. Kurdenpolitikern zufolge ist es Ankara nur recht, wenn der IS die kurdische Autonomie auf der syrischen Seite der Grenze zerschlägt. Diese Strategie werde aber nicht aufgehen, warnte die Kurdenpolitikerin Tugluk: „Wer heute den IS unterstützt, der kann schon morgen vom IS angegriffen werden.“ Erdogan sprach am Sonntag erneut über die mögliche Errichtung von militärisch gesicherten Pufferzonen auf syrischem Gebiet, um Flüchtlinge dort versorgen zu können. Darüber werde insbesondere mit den USA gesprochen, sagte Erdogan. Laut Presseberichten will die Türkei eine entsprechende UN-Entscheidung erwirken. Seit dem Ausbruch des syrischen Bürgerkrieges vor mehr als drei Jahren hatte die Türkei bereits mehrmals für die Einrichtung von Schutzzonen in Syrien geworben, dafür aber keine internationale Unterstützung erhalten. Offenbar hofft Erdogan, dass sich die Schutzzonen im Zuge der geplanten Militäraktionen gegen den IS in Syrien verwirklichen lassen.
Im Irak weiteten die USA ihre Luftangriffe gegen IS-Stellungen aus. Am Sonntag hätten Flugzeuge ein IS-Hauptquartier westlich von Mossul angegriffen, meldete die unabhängige irakische Nachrichtenseite Al-Sumaria News unter Berufung auf Anwohner. Am Samstag hatten US-Maschinen nach Augenzeugenberichten erstmals Angriffe auf IS-Stellungen im Zentrum der nordirakischen Stadt geflogen. Vor der UN-Generalversammlung werden die USA in der kommenden Woche weiter für ein globales Bündnis im Kampf gegen die Terrormiliz Islamischer Staat (IS) werben. Die US-Geheimdienste warnen nach dem Vormarsch der Terrormiliz Islamischer Staat (IS) vor dem Erstarken der noch nahezu unbekannten Dschihadistengruppe Chorasan. Die im vergangenen Jahr in Syrien gegründete Miliz werde von Muhsin al-Fadli (33), einem engen Vertrauten des getöteten Al-Kaida-Chefs Osama bin Laden, angeführt, berichtete die „New York Times“. Die Terrorgruppe könnte die Absicht haben, Anschläge in den Vereinigten Staaten oder auf US-Einrichtungen im Ausland zu verüben. „Was die Bedrohung unseres Vaterlandes angeht, könnte Chorasan ebenso gefährlich werden wie der Islamische Staat“, sagte der Direktor des Nationalen Geheimdienstes, James R. Clapper. Die Gruppe setzt sich nach Geheimdienstangaben aus Al-Kaida-Mitgliedern aus dem Nahen Osten, Nordafrika und Südasien zusammen. Mit Material von dpa
Deutsche in den Dschihad
Mit 13 Jahren aus Deutschland in den Dschihad: Etwa 24 Minderjährige haben sich nach Erkenntnissen des Verfassungsschutzes von Deutschland aus dem Kampf dschihadistischer Gruppen in Syrien und im Irak angeschlossen. Der jüngste Ausgereiste sei 13 Jahre alt, sagte der Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz, Hans-Georg Maaßen, der in Düsseldorf erscheinenden „Rheinischen Post“. Fünf Minderjährige seien inzwischen mit Kampferfahrung nach Deutschland zurückgekehrt, sagte der oberste Verfassungsschützer weiter. Keiner der ausgereisten Minderjährigen sei Polizei und Verfassungsschutz zuvor bekannt gewesen. Die jungen Leute seien verblendet und wüssten nicht, was auf sie zukomme. Auch junge Frauen seien unter den Ausgereisten. Insgesamt geht der Verfassungsschutz davon aus, dass über 400 Menschen aus Deutschland ausgereist sind, um sich in Syrien und im Irak dschihadistischen Gruppen anzuschließen. Text: dpa