Der Spuk, der Fatima zur Witwe macht und ihre drei Kinder zu Halbweisen, dauert nur wenige Minuten. An einem heißen Dezembertag rast eine Gruppe von Islamisten in schweren Geländewagen durch die Kleinstadt Gossi im Herzen von Mali und feuert wie wild um sich. Wenige Augenblicke später liegt Fatimas Mann tot am Straßenrand. „Sie haben mir erzählt, es sei ein Unfall gewesen“, sagt die 25-Jährige, „aber ich glaube das nicht.“
Mit ihrem Schicksal ist sie nicht alleine im Flüchtlingslager Sevare, gut eine Flugstunde von der Hauptstadt Bamako entfernt. Im Gegenteil. Fast 600 Menschen leben hier in Zelten und windschiefen Hütten, geflohen vor den Separatisten der Tuareg und den muslimischen Extremisten, die die frühere Vorzeigedemokratie in einen islamischen Gottesstaat verwandeln wollen. Mehr als 400 000 Malier haben deshalb den umkämpften Provinzen den Rücken gekehrt, haben ihre Felder aufgegeben und sich wie Fatima auf der Pritsche eines Lastwagens auf den Weg zu Verwandten, in den sichereren Süden oder in eines der Nachbarländer gemacht. Wann sie wieder zurück kann – das weiß auch Fatima nicht.
Zu Hause, in Gossi, hat sie ihre Familie mit dem Verkauf von selbst Gebackenem und geräuchertem Fisch über Wasser gehalten. Nun sitzt sie, scheu und unsicher nach all dem Schrecken, mit ihrer zweijährigen Tochter Zobou auf einem Teppich vor ihrem Zelt und wartet auf den Tag, an dem Mali zurück zum Frieden findet. Hinter den beiden tanzen die Kinder des Camps johlend durch die Gassen, weil nicht jeden Tag ein deutscher Entwicklungsminister hier vorbeikommt und Säcke voller Reis und ein paar neugierige Begleiter mitbringt. Der kurze Besuch von Dirk Niebel ist für die wilde Horde eine willkommene Abwechslung im langweiligen Lageralltag. Fatima aber schaut traurig ins Nichts.
Bis zum Militärputsch im März vergangenen Jahres war Mali ein für afrikanische Verhältnisse fortschrittliches Land mit freien Wahlen, toleranten Menschen und einem liberalen, unaufgeregten Islam. Ohne die französische Armee, die im Januar eingriff und den Vormarsch der aus Algerien und einigen arabischen Staaten unterstützten Islamisten stoppte, wäre Mali heute womöglich ein afrikanisches Afghanistan mit einer überforderten Staatsmacht und fanatischen Gotteskriegern, denen ihre Scharia heilig ist und kein Verbrechen zu grausam. Deshalb, vor allem, ist Niebel hier. Projekte wie die der Welthungerhilfe oder der Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit, die Lebensmittel verteilen, karges Ackerland bewässern oder jungen Näherinnen den Schritt in die Selbstständigkeit ermöglichen, gäben den Menschen in Mali wieder eine Perspektive, sagt er. „Das ist das schärfste Schwert gegen Fanatiker und Terroristen.“
Obwohl er vom malischen Präsidenten Dioncounda Traore und mehreren Ministern ausgesucht freundlich empfangen wird, ist es eine Reise mit Hindernissen, auf die Niebel sich da begeben hat. Ein Besuch in Timbuktu mit seinen weltberühmten, von den Dschihadisten brutal zertrümmerten Lehmbauten und Mausoleen muss kurzfristig wieder abgesagt werden: Das Risiko ist zu groß. In der Nacht zum Donnerstag haben die Söldner des Schreckens den Flughafen der Wüstenstadt angegriffen, es gab ein gutes Dutzend Tote und niemand in Timbuktu weiß so genau, ob dem ersten Versuch nicht noch ein zweiter Anschlag folgt.
Niebel ist zwar mit insgesamt 15 schwer bewaffneten Beamten des Bundeskriminalamtes nach Bamako gekommen, deren Vorgesetzten aber ist die ganze Mission Mali nicht geheuer. Als der Minister und seine Delegation sich am Samstag mit einer Transall der Bundeswehr auf den Weg in die Provinzhauptstadt Mopti machen, bleibt die Sicherheit im Hotel – der Einsatzleiter in Deutschland, heißt es kühl, habe das so angeordnet. Unter anderem soll er das Fehlen von gepanzerten Fahrzeugen in Mopti moniert haben. So fliegen der Minister und seine Delegation ohne Schutz und auf eigenes Risiko.
Denn die Bundeswehr, in Sicherheitskreisen eher als übervorsichtig bekannt, hatte keine Probleme mit dem Abstecher an die Grenze zum umkämpften Norden des Landes, wo Niebel unter anderem ein Flüchtlingslager besuchte. Sie flog den Minister und seine Delegation mit einer Transall vom Bamako nach Mopti und wieder zurück – ohne jeden Zwischenfall. Anschließend sagte Niebel: „Ich habe mich lange nicht mehr so sicher gefühlt in einem Konfliktland wie heute.“
Vor zwei Wochen war die Region um Mopti von der französischen Armee noch als rote Zone ausgewiesen worden – ein Gebiet, das man besser nicht betritt und als bleichgesichtiger Europäer schon gar nicht. Sowohl die Tuareg, die für einen unabhängigen Norden kämpfen, als auch die muslimischen Gotteskrieger verdienen ihr Geld nicht nur mit dem Schmuggel von Drogen, Menschen und Waffen, sondern auch mit Entführungen. Erst in der vergangenen Woche prahlte eine salafistische Gruppe damit, sie habe eine ihrer französischen Geiseln getötet. Mittlerweile jedoch, sagt Provinzgouverneur Ibrahima Hama Traore, habe sich die Lage zumindest in Mopti wieder etwas beruhigt. Er warnt allerdings auch: „Die internationale Gemeinschaft muss schnell handeln.“ Ende April bereits will Frankreich mit dem Abzug seiner Soldaten beginnen, danach sollen Blauhelme der UNO den fragilen Frieden sichern, unterstützt von mehr als 300 Soldaten der Bundeswehr.
Die Bundesrepublik war das erste Land, das Mali nach seiner Unabhängigkeit von Frankreich im September 1960 diplomatisch anerkannt hat. Nun sind es deutsche Entwicklungshelfer, die nach einem Jahr Bürgerkrieg als Erste wieder mit anpacken. Einer von ihnen ist der Schwarzwälder Willi Kohlmus, der für die Welthungerhilfe arbeitet und noch nicht so recht daran glauben mag, dass sich nach der französischen Intervention bald alles zum Guten wendet. „Mali wird sich auch im nächsten Jahr noch nicht selbst ernähren können“, prophezeit er. Da Hunderttausende geflohen seien und ihre Felder nicht mehr bestellt hätten, werde die Ernte viel zu gering sein. Auch der erhoffte Strom von Rückkehrern in die befreiten Provinzen sei bislang ausgeblieben. Vor allem in den ländlichen Gebieten des Nordens, heißt es in einem Lagebericht der Welthungerhilfe, sei die Situation „nach wie vor prekär und unberechenbar“.
Die Islamisten sind schwer getroffen, aber noch nicht besiegt, auf den Märkten gibt es zu wenige Lebensmittel, entsprechend hoch sind die Preise und auch die öffentliche Verwaltung funktioniert im Norden Malis noch nicht, weil Richter, Polizisten oder Lehrer ebenfalls vor dem Terror geflohen sind. Die schon versprochenen 15 Millionen Euro Entwicklungshilfe aus Deutschland, die sein Ministerium nach dem Militärputsch eingefroren hat, hat Niebel inzwischen zwar freigegeben. Weitere Hilfen aber knüpft er an Bedingungen: Der malische Staat muss dafür sorgen, dass er wieder funktioniert – vom Gericht bis zum Krankenhaus.
Handelsminister Karim Konate, der den Minister aus Deutschland am Flughafen in Bamako empfängt, klingt vermutlich auch deshalb etwas optimistischer als der Entwicklungshelfer Kohlmus. Ja, räumt er lächelnd ein, Mali habe noch „eine Reihe kleinerer Probleme“. Der Rest sind diplomatische Höflichkeiten – und demonstrativer Optimismus. Auch muslimische Prediger, sagt Konate, würden nun nicht mehr die Scharia, sondern „das gute Wort“ verbreiten. Die vielen Soldaten und Polizisten auf den Straßen in Mopti oder die meterhohen Barrikaden aus Sand am Flughafen in Bamako allerdings suggerieren etwas anderes: Dieser Staat ist sich seiner noch nicht sicher, er braucht Hilfe, militärische und humanitäre.
Selbst im vermeintlich sicheren Bamako ist offenbar nicht alles so friedlich, wie es aussieht, wenn Niebel und seine Delegation durch die quirlige, quälend heiße Stadt hetzen. Die deutschen Sicherheitsbehörden stufen die Millionenmetropole etwas übervorsichtig in die Kategorie drei ein – so gefährlich wie Bagdad und Damaskus. Außerdem gibt es starke wahabitische Strömungen in Bamako, eine besonders konservative Lesart des Islam, und einen Run auf deren Koranschulen. Sicher ist hier nur, dass noch nichts sicher ist. Diplomaten und Entwicklungshelfer haben ihre Frauen und Kinder deshalb ausgeflogen.
Im Flüchtlingslager in Sevare ist die Welt so gesehen noch einigermaßen in Ordnung. Es gibt genug zu essen für alle, die Islamisten hat das französische Militär fürs Erste aus der Region vertrieben – und die Kinder des Camps können die umliegenden Schulen besuchen. Verglichen mit ähnlichen Lagern in Kenia, Mauretanien oder Jordanien ist Sevare mitten in einem von Unruhen geplagten Land eine Oase der Ruhe. Die junge Witwe Fatima allerdings tröstet auch das nicht. Zum Abschied der Delegation aus Deutschland flüstert sie: „Ich möchte wieder nach Hause.“
Mali
Mit 1,2 Millionen Quadratkilometern ist Mali fast viermal so groß wie die Bundesrepublik, hat aber nur 16 Millionen Einwohner. Seit 1960 ist die ehemalige französische Kolonie unabhängig. Im Sommer will das Land einen neuen Präsidenten und ein neues Parlament wählen.
Nach einem Militärputsch im März 2012 stürzte Mali ins Chaos. Rebellen der Tuareg, ein altes Berbervolk, kämpfen seitdem für einen unabhängigen Staat im Norden des Landes. Gleichzeitig versuchen islamische Extremisten mit brutaler Gewalt und schweren Menschenrechtsverletzungen die Macht im Land zu übernehmen.
Seit Januar dieses Jahres hat die französische Armee gemeinsam mit anderen afrikanischen Einheiten die Dschihadisten wieder zurück nach Norden gedrängt, aber noch nicht besiegt. Noch im Lauf des Jahres sollen Blauhelme der Vereinten Nationen für Stabilität sorgen. Die Bundeswehr unterstützt bereits die gegenwärtige Mission mit Transport- und Tankflugzeugen. Außerdem beteiligt sie sich an einem Ausbildungsprogramm für die malische Armee und baut mit vier Soldaten aus dem Bundeswehrkrankenhaus in Ulm ein Lazarett auf. Insgesamt hat der Bundestag den Einsatz von 330 Mann bewilligt. FOTO: RWA