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BERLIN
Manchmal weint Alexijewitsch
reda
 |  aktualisiert: 19.10.2015 03:36 Uhr

Als in Stockholm jemand den Namen Swetlana Alexijewitsch nannte, kamen in Weißrussland Menschen aus ihren Häusern und weinten. Manche öffneten eine Flasche Sekt, wozu sie sonst selten Anlass haben. Sie freuten sich. Sie feierten. Und dann gratulierte sogar noch der Feind.

Ausgelöst hatte diese seltenen Szenen das Nobelkomitee in Stockholm. In der vergangenen Woche verlieh es die wichtigste literarische Auszeichnung der Welt an die weißrussische Schriftstellerin Alexijewitsch. Nun erzählte die 67-Jährige in Berlin von ihrem Werk, ihrer Heimat – und von ihrem Nobelpreis, über den sich so viele in ihrem „gedemütigten Land“ gefreut hätten. Eine Auszeichnung, wegen der selbst Weißrusslands Diktator Alexander Lukaschenko zum Telefonhörer griff und gratulierte.

Das ist insofern verwunderlich, weil es Weißrussland schlecht geht. Und Alexijewitsch schreibt Lukaschenko eine Mitschuld zu. Er ist der einzige Diktator in ganz Europa, die Wirtschaft des Landes ist schwach und Oppositionelle werden häufig eingesperrt. „Die Menschen haben Angst vor allem“, sagt Alexijewitsch über ihr Heimatland.

Es ist eine Tragik, die seit Jahrzehnten den Stoff für Alexijewitschs Geschichten liefert. In ihren Berichten über Tschernobyl oder den sowjetischen Afghanistan-Krieg verschafft sie Menschen Gehör, deren Stimme sonst niemand wahrnimmt. Die gelernte Journalistin tut das, indem sie Hunderte Gespräche führt. Daraus entstehen ihre „Romane aus Stimmen“. Und immer wieder quält die Schriftstellerin dabei eine politische Frage: „Warum ist unser Leiden nicht in Freiheit umgeschlagen?“

Was Freiheit bedeutet, begriff Alexijewitsch in den vergangenen 15 Jahren. Sie zog nach Paris und Stockholm, weil das weißrussische Regime immer mehr Druck auf sie ausgeübt hatte. Man warf ihr vor, für die Amerikaner zu arbeiten, hörte ihr Telefon ab und untersagte öffentliche Auftritte. Im westlichen Europa lernte die Autorin, was Demokratie bedeutet. „Ich habe begriffen, dass man Demokratie nicht einfach einführen kann wie Schweizer Schokolade.“ Eine Erfahrung, die auch ihr Volk zu spüren bekam.

Denn als vor 25 Jahren die Sowjetunion zerfiel, galt der Sozialismus als gescheitert. Es sah so aus, als gehörten Unterdrückung und Diktatur der Geschichte an. „Eine naive Vorstellung“, sagt Alexijewitsch. In den Köpfen der Menschen blieb oftmals alles beim Alten. Bis heute. Der sowjetische Diktator Josef Stalin, der seit mehr als 60 Jahren tot ist, sei „lebendiger als alle Lebenden“, sagt Alexijewitsch. Er spukt in den Köpfen der Menschen.

Es sind solche politischen Themen, die die Autorin seit Jahrzehnten beschäftigen. Trotzdem will sie keine Politikerin sein. Sondern Schriftstellerin, die ihre Geschichten wie eine Journalistin recherchiert. Bereits als junges Mädchen lauscht sie den Erzählungen der Frauen aus ihrem Heimatdorf, deren Männer in den Krieg gezogen waren. Sie zeigen ihr, wie schmerzvoll Krieg sein kann – abseits der sowjetischen Heldenverehrung. Beeindruckt stellt Alexijewitsch damals fest: „Die Kultur des Krieges ist eine männliche Kultur.“ Weil die mündliche Kultur viel ausgeprägter ist als das Schriftliche, schreibt sie die Geschichten auf.

Wahlen in Weißrussland

Der autoritäre Machthaber Weißrusslands, Alexander Lukaschenko, hat bei der Präsidentenwahl versucht, sich eine fünfte Amtszeit zu sichern. Die Abstimmung in der Ex-Sowjetrepublik verlief am Sonntag nach Eindrücken von Beobachtern ruhig. Lukaschenko (61) gab in der Hauptstadt Minsk seine Stimme ab. Den drei zugelassenen Gegenkandidaten wurden bei der Abstimmung keine Chancen eingeräumt. Die Bewerber Sergej Gajdukewitsch und Nikolai Ulachowitsch gelten als regimetreu. Der versprengten weißrussischen Opposition nahe steht nur Tatjana Korotkewitsch, die sich als erste Frau um die Präsidentschaft in Weißrussland bewirbt. Prognosen wurden Sonntagabend, offizielle Ergebnisse für Montag erwartet. Text: dpa

 
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