Sirenen, Explosionen, Inferno. Die Zahl derer schwindet, die aus eigenem Erleben wissen, was an Grauenhaftem geschah, als Städte in Flammen aufgingen. Am Anfang traf es Warschau und Rotterdam, gegen Ende gehörten Würzburg und Schweinfurt zu den deutschen Städten, die nur noch Schuttberge waren, auf denen Lattenkreuze standen, die vom vielfachen Tod kündeten. Lange Zeit schrieben die Literaten kaum eine Zeile, zumindest nicht die deutschen. Der Schrecken von Auschwitz lasse jeden Schrecken verblassen, den die deutsche Bevölkerung erlitten hat, lautete ein Argument. Mit jedem Jahrzehnt Abstand zum Bombenterror wurde das Schreiben leichter, die Zahl der Veröffentlichungen stieg. 2002 erschien Jörg Friedrichs Bestseller „Der Brand“.
Nun liegt ein weiteres, in Umfang wie Inhalt außergewöhnliches Buch vor. Es ist ein dreibändiges Werk mit nicht weniger als 1014 Seiten. Die sind dem „Luftkrieg von Aschaffenburg bis Zwiesel“ gewidmet, so lautet der Titel. Geschrieben hat es kein Historiker, auch kein Literat. Autor ist der 1949 im oberfränkischen Marlesreuth bei Naila geborene Harald G. Dill: ein Diplomgeologe und Mineraloge, Professor an der Universität Hannover. Ein „halber Würzburger“, sagt er selber und erinnert sich gerne, dass er in den 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts in der Universitätsstadt am Main Geografie und Mineralogie studierte.
Die drei Bände wiegen schwer, der Inhalt aber ist so informativ wie kurzweilig. Das militärisch-technische Geschehen bildet die Kulisse, die Protagonisten auf der Bühne sind die Soldaten der Luftwaffe, die Luftwaffenhelferinnen und -helfer sowie ihre ehemaligen Gegner, die Piloten und Besatzungen der Royal Air Force (RAF) und der USA Air Force (USAAF). Die besondere Sicht der Dinge macht den Unterschied: „Als Naturwissenschaftler schaue ich auf das Untersuchungsobjekt von verschiedenen Seiten“, schreibt Dill. So entstand kein reines Sachbuch über den Luftkrieg, sondern ein „militärtechnisches Feature zur Heimatgeschichte Nordbayerns“. Dabei sind die beiden Begriffe Feature und Heimat bewusst gewählt, betont der Autor. „Sie stehen unverwechselbar für die Menschen, die sich einst als Feinde in dieser Region gegenüberstanden“, sagt Dill und ergänzt: „Past foes, present friends – früher Widersacher, heute Freunde.“
Dill, der Ende der 80er Jahre das Kontinentale Tiefbohrprojekt bei Windischeschenbach wissenschaftlich begleitete, ist – unter Mitarbeit von Karlheinz Hetz – ganz tief in die Materie des Luftkrieges eingedrungen. Dessen Prolog ist – das macht der Autor gleich nach dem Vorwort deutlich – genau betrachtet der Vertrag von Versailles. Der beendet den Ersten Weltkrieg zwar formell, ist aber zugleich der Startblock für den Zweiten.
Die Laufbahn des Piloten dient Dill gewissermaßen als Gliederungsschema, anhand dessen der Aufstieg und Absturz der Luftwaffe in der nordbayerischen Region nachgezeichnet wird. Für viele spätere Jagdflieger und Bomberpiloten der deutschen Luftwaffe begann die „Karriere“ ganz unkriegerisch in einer der Segelflugschulen, von denen die auf der Wasserkuppe in der hessischen Rhön schon in den 20er Jahren des vergangenen Jahrhunderts eine der bekanntesten war.
Wahrscheinlich trug die vom Versailler Vertrag verordnete völlige Abstinenz beim Motorflug zur Begeisterung der Jugend für die Segelfliegerei bei. Dill beschreibt, wie das die nationalsozialistischen Machthaber nach 1933 zu nutzen wussten. Spielerisch und doch systematisch führten sie die Jugend an die Luftwaffe heran. Die Zeitschrift „Adler“ färbte die Wirklichkeit des Luftkrieges schön, das Nationalsozialistische Fliegerkorps (NSFK) übernahm mit Segelfliegern wie dem „Kranich“ die Vorschulung für die Luftwaffe. Dass sich die Wirklichkeit gravierend von der NS-Propaganda unterschied, wurde den Besatzungen während des Krieges schnell klar. Dill zieht folgendes Fazit: Nur wenige Luftwaffensoldaten erhielten das Ritterkreuz, aber viele das Holzkreuz.
Für seine kriegerischen Pläne brauchte das NS-Regime neben guten Piloten modernes Fluggerät. Die Produktion von Jagdflugzeugen in den Messerschmitt-Werken und ihre Erprobung verliefen in Nordostbayern bis weit in den Krieg hinein ohne größere Beeinträchtigung durch die alliierten Luftstreitkräfte. Schlägt man das Kapitel Technikgeschichte auf, stößt man in dieser Region Bayerns auf die schnellsten Kolbenmotorjäger wie die Me 109 R und den größten Lastensegler Me 321 „Gigant“. Bei Messerschmitt mit seinen übers Land verteilten Produktionsstätten projektierte man auch den ersten Raketen-Objektschutzjäger Me 163 „Komet“, gegen Ende des Krieges lief in zahlreichen Waldwerken der erste einsatzfähige Düsenjäger Me 262 vom Band.
Dazu muss man wissen, dass im März 1944 nur noch ein Drittel der deutschen Luftwaffenindustrie intakt geblieben war. Die Flugzeugproduktion musste dezentralisiert und so vor den alliierten Bomberflotten geschützt werden. In unterirdischen Stollen und mitten in den Wäldern entstanden Fabriken, in denen die aus anderen Werken per Lkw angelieferten Flugzeugteile zusammengebaut wurden. Um die im Verlauf des Krieges geforderten hohen Produktionsziffern sicherstellen zu können, spielte der KZ-Komplex Flossenbürg mit seinen Außenlagern in der Oberpfalz, Franken und den benachbarten östlichen Gebieten eine führende Rolle in der NS-Rüstungsindustrie.
Das Buch beschreibt detailliert beeindruckende technische Leistungen deutscher Ingenieure und Techniker in den ersten Jahren nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten, macht aber auch klar, welche Folgen die von der Führung nach der Aufkündigung des Versailler Vertrages 1935 offen zur Schau gestellte Großmannssucht hatte: „Mit diesen propagandistisch überreizten technischen Höchstleistungen stimulierte die deutsche Luftwaffe nur die alliierten Ingenieure und Techniker an der „Industriefront“. Im Gegensatz zur Mittelmacht Deutschland verfügten die, wie sich später noch deutlich herausstellen sollte, über „unlimited resources“.
Bereits vor Einführung der allgemeinen Wehrpflicht und Gründung der deutschen Luftwaffe 1933 wurden neue Flugfelder auch in Nordostbayern angelegt. 1938 stand dann die Infrastuktur des Luftgaus XIII. Fliegerhorste gab es in Herzogenaurach, Kitzingen, Würzburg, Illesheim, Wertheim, Straubing, Eger, Marienbad, Crailsheim, mit Leithorsten in Fürth, Schweinfurt, Giebelstadt, Regensburg, Ansbach und Bayreuth. E-Häfen und Notlandeplätze befanden sich in Vilseck-Heringnohe, Gerolzhofen, Seligenstadt, Gelchsheim, Dornberg-Schlempertshof, Oettingen, Deiningen, Windischenlaibach/Kirchenlaibach, Weiden, Amberg-Schafhof, Unterschlauersbach, Cham, Oberscheckenbach, Buchschwabach und Puchhof.
Aus einer Art Miniaturchronik der Standorte wird deutlich, welche „Vögel“ wo stationiert waren, welche Heeresverbände und militärische Kommando- und Verwaltungsstellen es gab und wer sie befehligte. Der gebürtige Bayreuther Robert Ritter von Greim kommandierte die bereits 1933 in Würzburg auf dem Flugfeld am Galgenberg eingerichtete Fliegerschule, gegen Ende des Krieges wurde er von Adolf Hitler zum Oberbefehlshaber der Luftwaffe und Generalfeldmarschall ernannt, nachdem Hermann Göring seiner Ämter enthoben worden war. Greim entzog sich seiner Auslieferung an die Sowjets durch Selbstmord.
Nordbayern lag lange gewissermaßen im Zentrum des damaligen großdeutschen Reiches. Die geostrategisch günstige Lage ermöglichte in den Anfangsjahren des Zweiten Weltkrieges die Ausbildung von Luftwaffenpersonal und Flakhelfern unter quasi friedensmäßigen Bedingungen. 1943 verdeutlichten die ersten Abstürze deutscher und alliierter Flugzeuge nach Luftkämpfen und Flak-Beschuss, dass sich die relativ ruhigen Zeiten ihrem Ende näherten. In diesem Jahr geriet besonders Schweinfurt als für den Krieg wichtige Kugellagerproduktionsstätte ins Visier der alliierten Luftstreitkräfte.
Im Zweiten Weltkrieg war fast die Hälfte der deutschen Wälzlagerherstellung in Schweinfurt konzentriert, vor allem bei den beiden wichtigsten Fabriken FAG Kugelfischer und Fichtel & Sachs. Die Briten hielten die Stadt mit ihren damals knapp 50 000 Einwohnern für ein nur schwer anzusteuerndes Ziel. Die US Air Force hingegen wagte am 17. August mit 376 viermotorigen Bombern die Operation „Double Strike“, bei dem auch noch Regensburg und zwei Ausweichziele in München und Frankfurt auf dem Plan standen. Dill beschreibt detailliert, warum dieser Tag als „Black Thursday“ in die Annalen der USAAF einging. Von den 220 Bombern, die Schweinfurts Kugellagerwerke ausschalten sollten, wurden 36 Maschinen abgeschossen und 122 beschädigt, davon 27 so schwer, dass sie nur noch als Ersatzteillager dienen konnten.
Eine Ursache für das Fiasko der US Air Force waren die Jäger der deutschen Luftwaffe, bei denen eine Reihe kaum erprobter Methoden zum Einsatz kam, darunter erstmals Luft-Luft-Raketen in größerer Anzahl. Ein anderer Grund für die herben Verluste der Amerikaner war, dass die Flak-Festung Schweinfurt jedem Vergleich mit anderen Städten standhalten konnte. Der Autor beschreibt die Konzentration der Flugabwehrverbände und ihre Ausstattung bis ins Detail und hat in den Archiven der Zeitungen aus der Region das Schicksal der Besatzungen abgeschossener alliierten Bomber recherchiert.
Den beiden operativen Grundformen des Luftkrieges widmet der Autor breiten Raum. Mit dem Vorrücken der Front ging der strategische Bombenkrieg in Nordbayern in das taktische Luftkriegsgeschehen über, wobei Dill den Blick mehr auf die Einsätze der deutschen Luftwaffe fokussiert, indem er einige der Vorgänge schlaglichtartig herausgreift. 1945 waren die meisten Fliegerasse aus den Anfangsjahren des Krieges gefallen. Überhastet ausgebildete Piloten flogen die deutschen Maschinen, für deren Einsatz es viel zu wenig Treibstoff gab. Folglich waren Abschüsse durch deutsche Jäger zur Seltenheit geworden, die Abschüsse durch alliierte Jäger hingegen häuften sich. Es war die leichte Flak, bemannt von Schülersoldaten, die die taktischen Luftstreitkräfte der USA dazu zwang, ihre Tiefangriffe auf die Flugplätze der Region einzustellen, weil die Verluste Ende April 1945 für die USAAF nicht mehr tragbar waren.
Historiker mögen das eine oder andere sprichwörtliche Haar in der Suppe finden, wo es dem Autor Dill um die Einordnung und Bewertung militärischer Strategien und technischer Entwicklungen geht. Wohltuend ist jedenfalls die differenzierende Betrachtung durch den Autor, der zum Beispiel beim „moral bombing“ der Briten sehr wohl zwischen dem Stab der RAF und dem fliegenden Personal unterscheidet und schreibt: „Das Leid der deutschen Bombenopfer und der Hinterbliebenen der britischen Besatzungsmitglieder werden nebeneinander betrachtet, jedoch nicht gegeneinander aufgerechnet. Das Denkmal in Schweinfurt am Anfang des Buches versinnbildlicht dies.“
Harald G. Dill berichtet, analysiert und zieht Schlüsse. Sein militärisch-technisches Sachbuch zur Heimatgeschichte Nordbayerns ist geschrieben von einem, der tief in dieser Region verwurzelt ist. Das spürt man, ebenso das Bemühen, „sich in die Rolle derer zu versetzen, die dabei waren“. Ausschlaggebend für die Recherchearbeit, die parallel zu Dills beruflichen Tätigkeit „wohl zehn Jahre in Anspruch genommen hat“, war eine Erkenntnis: „Je kleiner die Zahl derer, die dabei waren, desto größer die Zahl jener, die die Elterngeneration in einer Schwarz-Weiß-Zeichnung darzustellen bereit sind.“ Wie gut, dass der Naturwissenschaftler das Untersuchungsobjekt von allen Seiten betrachtet.