
Am Tag, an dem die Hiobsbotschaft bekannt wird, muss Jörn Teich ins Krankenhaus. Sein Puls ist in die Höhe geschossen, sein Herz rast und auch dieses Zittern ist wieder da. Der 41-Jährige weiß, dass er sich nicht aufregen darf seit dem Herzinfarkt vor zwei Jahren. Doch als das Landgericht Duisburg am Dienstag vergangener Woche verkündet, dass es nach dem Loveparade-Unglück keinen Strafprozess geben wird, ist es einfach zu viel. „Es ist, als wenn einem der Boden unter den Füßen weggezogen wird“, sagt Teich.
Jörn Teich, der groß gewachsene Mann aus Sprockhövel bei Bielefeld, hat die Katastrophe vom 24. Juli 2010 überlebt. Und doch lässt ihn dieser Tag bis heute nicht mehr los. Dieser Ausflug, den der alleinerziehende Vater so sehr bereut. Seiner vierjährigen Tochter Lena Mia will er damals die Menschen zeigen, die bunte Haare haben und so verrückt tanzen. Vater Reinhard Teich fährt sie die 60 Kilometer nach Duisburg, wartet im Auto. Über einen Rettungsweg gelangt Jörn Teich aufs Gelände, Lena Mia sitzt auf seinen Schultern, singt. Als er nach ein paar Minuten zurückwill, lassen ihn die Polizisten nicht mehr durch.
Teich wird zum Tunnel geschickt, steckt plötzlich in der Menschenmasse. An das, was danach passiert ist, an die Massenpanik, wie er aus dem Gedränge herausgekommen ist, kann er sich nur bruchstückhaft erinnern. Posttraumatische Belastungsstörung, sagen die Ärzte, wie es bei vielen der mehr als 650 Verletzten vorkommt. „Ich bin Teil einer Masse, die 21 Menschen totgetreten hat“, sagt Teich, der sich vier Rippen gebrochen hat.
Seit jenem Tag vor fast sechs Jahren ist nichts mehr, wie es war. Arbeiten kann der gelernte Florist und Rettungsassistent nicht mehr. Schon der Weg in den Supermarkt bedeutet für ihn eine Qual, genauso wie die Sirene eines Rettungswagens oder der Anblick eines Bauzauns. „Mehr als fünf Menschen machen mir Angst“, sagt Teich, der mittlerweile mit seiner Tochter in einer betreuten Einrichtung wohnt.
Teich braucht Antworten. Darauf, was sich an diesem Tag auf dem ehemaligen Güterbahnhof in Duisburg abgespielt hat. Warum es an der Zugangsrampe zur Massenpanik kommen konnte. Wer Schuld an diesem Unglück trägt. Und Teich fragt sich, warum die Verantwortlichen keine Verantwortung übernehmen. „Erst wenn diese Fragen geklärt sind, kann ich abschließen.“
Auch Edith Jakubassa und Friedhelm Scharff wollen Antworten. Darauf, wie ihre Tochter Marina, 21, in das Gedränge am Fuß der Rampe geraten ist. Und wer für ihren Tod verantwortlich ist. „Jetzt werden wir nie erfahren, was damals passiert ist und warum Marina sterben musste“, sagt die Mutter. Und in ihrer Stimme liegt nicht nur Trauer, wenn sie über den geplatzten Prozess spricht. Sondern vor allem Zorn.
Fast sechs Jahre haben sie, wie viele Hinterbliebene, darauf gewartet, dass das Geschehen strafrechtlich aufgearbeitet wird. Die Beweislage schien erdrückend. Schließlich gibt es unzählige Handyvideos, in denen das Geschehen dokumentiert wurde, 950 Stunden Videomaterial insgesamt. Zudem zahlreiche Berichte über ein mangelndes Sicherheitskonzept, über fehlende Kontrollen und die schlechten Funkverbindungen der Einsatzkräfte.
Dreieinhalb Jahre haben Polizei und Staatsanwaltschaft ermittelt, 3409 Zeugen vernommen. Die Hauptakte umfasst rund 46 700 Seiten.
Und dann das: Zwei Jahre, nachdem die Staatsanwaltschaft Anklage gegen sechs Angestellte der Stadt und vier Mitarbeiter des Veranstalters Lopavent erhoben hat, dessen Chef der gebürtige Bamberger Rainer Schaller war, der auch der Gründer der Fitnesskette McFit ist, soll es keinen Strafprozess geben. Weil, wie Landgerichtspräsident Ulf-Thomas Bender erklärt, die angeschuldigten Personen „keiner hinreichenden Straftat verdächtig“ sind. Hinzu kommt das umstrittene Gutachten, mit dem die Staatsanwaltschaft den britischen Panikforscher Keith Still beauftragt hat. Das Gericht stuft dieses zentrale Beweismittel als „nicht verwertbar“ ein. Es leide an „gravierenden inhaltlichen und methodischen Mängeln“.
Seither hagelt es Kritik. Der Düsseldorfer Anwalt Julius Reiter, der rund 100 Betroffene vertritt, spricht von einer „Bankrotterklärung der Justiz“. „Für alle Beteiligten ist das eine Katastrophe“, sagt Nebenklage-Vertreterin Bärbel Schönhof, „ein Schlag ins Gesicht“. Die Staatsanwaltschaft hätte ein oder sogar zwei zusätzliche Gutachten in Auftrag geben müssen, schließlich habe es zuvor genügend Warnschüsse seitens des Gerichts gegeben. Die Anwältin vertritt zahlreiche Verletzte und Traumatisierte, die in Zivilverfahren gegen den Veranstalter, das Land NRW und die Stadt Duisburg klagen, um Schmerzensgeld und Schadenersatz zu bestreiten.
Für Edith Jukubassa, die Mutter von Marina, ist die Entscheidung des Gerichts, ein Strafverfahren nicht zuzulassen „ein Skandal“. Immer wieder hatten sie und ihr Mann betont, wie wichtig ein Verfahren sei – um zu verstehen und zu verarbeiten. „Und wir hatten natürlich immer gehofft, dass die Beschuldigten vor Gericht endlich den Mund aufmachen und doch noch die wahren Verantwortlichen benennen.
“ Denn aus Sicht der Eltern hat die Staatsanwaltschaft ohnehin nur die „kleinen Fische“ angeklagt. Die „wirklichen Verantwortlichen“ waren in ihren Augen Duisburgs damaliger Oberbürgermeister Adolf Sauerland, der Sicherheitsdezernent Wolfgang Rabe und Lopavent-Chef Rainer Schaller. Friedhelm Scharff sagt: „Leider haben sie sich wie so viele aus der Verantwortung gestohlen.“
Empört, machtlos, hilflos. So fühlt sich das Ehepaar nun. Ein Gefühl, das viele Betroffene in diesen Tagen kennen. Jörn Teich, der alleinerziehende Vater, hält seit Jahren Kontakt zu Hinterbliebenen und Verletzten, hat im vergangenen Jahr die Stiftung „Duisburg 24. 7. 2010“ mit ins Leben gerufen, die Selbsthilfegruppen organisiert und Therapieplätze vermittelt. Er sagt: „Für die Angehörigen und Betroffenen ist das wie kurz nach dem Unglück, da kommt jetzt alles wieder hoch.“ Viele haben darauf gehofft, dass die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden, auf so etwas wie Gerechtigkeit.
So wie Gabriele Müller, die ihren Sohn Christian, 25, verloren hat. Die Entscheidung des Gerichts war ein Schock für sie. „Es war, als wäre Christian ein zweites Mal gestorben“, sagt sie im Interview mit Stern TV. „Diese Nachricht des Landgerichts war wie die Nachricht von seinem Tod.“
Ulrich Zielke kennt Situationen wie diese, das Gefühl der Ohnmacht, die große Leere, die Tatsache, dass alte Wunden plötzlich wieder aufreißen. „Die Betroffenen erleben das als einen erneuten Kontrollverlust, wie schon das traumatisierende Ereignis selbst“, sagt der Traumatherapeut, der am LWL-Klinikum in Dortmund arbeitet. Diejenigen, denen es bis jetzt nicht gelungen sei, ausreichend Abstand zu dem Unglück zu gewinnen, könnten die Gefühle von Wut und Ohnmacht auch als neue Traumatisierung erleben. Bei traumatischen Ereignissen, die von Menschen ausgelöst würden, bestehe das Bedürfnis, dass diese Menschen angemessen bestraft würden, erklärt Zielke. „Hinzunehmen, dass Schuldige ohne Strafe davonkommen, ist für Betroffene sehr schwierig.“
Doch noch ist der Prozess nicht gescheitert. Die Staatsanwaltschaft Duisburg hat umgehend Beschwerde beim Oberlandesgericht Düsseldorf eingelegt. Die zweite Instanz muss nun entscheiden, ob und wie es weitergeht. Das dürfte Monate dauern. „So bleibt uns ja zumindest noch ein kleines Stück Hoffnung“, sagt Edith Jakubassa. Aber wirklich daran glauben, dass es noch zu einem Prozess kommt? Nein, gesteht sie ein, das tut sie nicht. Jörn Teich will sich mit der Situation nicht abfinden – selbst, wenn er nach den jüngsten Ereignissen den Glauben an den Rechtsstaat verloren hat, wie er sagt. Nach zwei Tagen hat er sich selbst aus dem Krankenhaus entlassen, hat wieder telefoniert, Treffen mit Loveparade-Betroffenen organisiert, hat zusammen mit anderen ein blutbeflecktes Blumengesteck vor dem Gerichtsgebäude in Duisburg niedergelegt – dazu eine Kondolenzkarte mit den Worten „Danke für das Versagen“.
Was den 41-Jährigen antreibt? „Ich möchte die Wahrheit wissen“, sagt er. Verstehen, um vergessen zu können. Einen Schlussstrich ziehen. Und dann, wenn sich irgendwann nicht mehr das ganze Leben um diesen einen, schlimmen Tag dreht? „Dann würde ich gern ein ganz normales Leben führen“, sagt er. Wieder vor die Tür gehen, ohne Angst zu haben. Wieder einen Rettungswagen hören, ohne Panik zu bekommen. Wieder die Nähe zu anderen Menschen zulassen. Mit Informationen von dpa
Die Loveparade
Party: Über Jahre fand die Loveparade in Berlin statt, ab 2007 an wechselnden Orten im Ruhrgebiet. Am 24. Juli 2010 kamen 1,4 Millionen Menschen auf das Gelände des ehemaligen Güterbahnhofs in Duisburg. Dort kam es an einer Engstelle im Tunnel zum Gedränge. Der Grund: Zehntausende Menschen wollten durch den Tunnel zum Haupteingang. Zeitgleich wollten Tausende an dieser Stelle das Gelände verlassen. Opfer: Der etwa 15 Meter breite und 40 Meter lange Tunnel wurde zur Falle. 21 Menschen kamen ums Leben. Mehr als 650 wurden verletzt, einige schwer. Die Todesopfer aus Deutschland, China, Australien, Spanien, Italien und den Niederlanden wurden erdrückt oder zu Tode getrampelt.
Mehr als 2000 Menschen gelten noch immer als traumatisiert. Gedenken: Am Unglücksort erinnert eine stählerne Gedenktafel mit dem Satz „Liebe hört niemals auf“ in den Sprachen der Getöteten an die Katastrophe. Außerdem erinnern 21 Holzkreuze an die Opfer. SOK/AZ