Der Libanon steht vor seiner vielleicht größten Herausforderung aufgrund des Konfliktes im benachbarten Syrien. Über die politische, wirtschaftliche und soziale Lage des Landes berichtet Dr. Philipp W. Hildmann, Beauftragter für Interkulturellen Dialog der Hanns-Seidel-Stiftung, im Gespräch mit dieser Redaktion.
Philipp W. Hildmann: Zunächst muss man festhalten: Es handelt sich hier nicht um eine offizielle Stellungnahme von libanesischer Seite, sondern um besorgte Stimmen aus der Bevölkerung. Viele Libanesen fühlen sich mit ihrem Flüchtlingsproblem von der internationalen Gemeinschaft im Stich gelassen. Seit Ausbruch des Syrienkrieges sind bis zu 1,5 Millionen Flüchtlinge in den Libanon mit seinen ursprünglich vier Millionen Einwohnern gekommen. Das hat zu gewaltigen Problemen im Land geführt. Dass der Flüchtlingsstrom weiter ansteigt, ist aktuell allerdings kaum zu erwarten. Die Grenze zu Syrien ist faktisch seit zwei Jahren geschlossen. Im Kern geht es bei diesen Drohungen also eher darum, Druck aufzubauen, um mehr dringend benötigte internationale Hilfe zur Krisenbewältigung zu erhalten.
Hildmann: Hier muss man historisch etwas ausholen. Als der Libanon 1943 unabhängig wurde, stellten die Christen mit über 50 Prozent die größte Gruppe. Aufgrund der im Vergleich deutlich höheren Geburtenrate in den muslimischen Teilen der Bevölkerung liegt der Anteil der Christen inzwischen aber nur noch bei weit unter 40 Prozent. Genaue Zahlen gibt es nicht. Mit den Flüchtlingswellen aus Syrien sind nun wiederum überwiegend sunnitische Muslime ins Land gekommen, die dem Libanon zusätzlich rund 2500 Neugeborene pro Monat bescheren. Im Ergebnis geht der Anteil der Christen an der Gesamtbevölkerung immer weiter zurück. Dies stellt auf der politischen Ebene mittelfristig die zuletzt 1989 im Abkommen von Taif bekräftigte paritätische Machtverteilung zwischen christlichen und muslimischen Bevölkerungsgruppen infrage. Schon heute fühlen sich die Christen zunehmend aus dem öffentlichen Leben verdrängt. Dieser politische und kulturelle Bedeutungsverlust macht vielen von ihnen Angst.
Hildmann: Hier muss man realistisch bleiben: Deutschland allein kann politisch kaum etwas bewirken. Es braucht das Gewicht aller europäischen Länder im transatlantischen Schulterschluss mit den USA. Ob die für Ende Februar in Genf angekündigte Verhandlungsrunde unter UN-Führung den Friedensprozess weiter voranbringen wird, bleibt zu hoffen, aber abzuwarten.
Hildmann: Der deutsche Beitrag zur Stabilisierung der gesamten Krisenregion ist bereits heute enorm. In den vergangenen vier Jahren hat Deutschland rund 2,5 Milliarden Euro nicht nur zugesagt, sondern auch zur Verfügung gestellt. Andere Länder haben hier zum Teil noch großen Nachholbedarf, ihren Worten auch Taten folgen zu lassen. Allein das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung hat im vergangenen Jahr für eine Beschäftigungsoffensive 200 Millionen Euro eingesetzt. Damit wurden im Zuge sogenannter Cash-for-work-Programme Lehrer eingestellt, Straßen und Häuser repariert oder die Abfallentsorgung in völlig überlasteten Gemeinden unterstützt.
Man darf allerdings nicht verschweigen, dass all diese wertvollen Hilfsmaßnahmen im Verhältnis zur schieren Masse an Flüchtlingen und Hilfsbedürftigen im Land noch immer überschaubar sind und Potenzial nach oben haben.
Hildmann: Einige der zentralen Probleme sind ja bereits angeklungen. Die Mehrzahl der Flüchtlinge im Libanon lebt nicht in Camps, sondern in Dörfern und Kleinstädten. Im sechsten Jahr der Krise sind viele Kommunen inzwischen an der Grenze ihrer Belastbarkeit angekommen. Gemeinden, die mehr als das Doppelte ihrer Einwohnerzahl an Flüchtlingen beherbergen. Explodierende Lebenshaltungskosten. Massive Probleme bei der Strom- und Wasserversorgung, der Abwasser- und Müllentsorgung, im Bereich Schule und Ausbildung – mehr als die Hälfte der syrischen Flüchtlinge sind im Schulalter. Hinzu kommt der Konkurrenzkampf auf dem Billiglohnsektor. Das alles hat inzwischen zu enormen Spannungen zwischen Flüchtlingen und der Aufnahmegesellschaft geführt, die den sowieso labilen inneren Frieden im Land zu zerreißen drohen, wenn hier nicht rasch spürbar Abhilfe geleistet wird.
Hildmann: Im Mai vergangenen Jahres haben Kommunalwahlen stattgefunden, und im Oktober wurde nach einer Vakanz von 891 Tagen Michel Aoun zum 13. Staatspräsidenten des Libanon gewählt – eine sicherlich schillernde Persönlichkeit, die aber bei vielen Libanesen großes Ansehen genießt. In seinem Auftrag hat Premierminister Saad Hariri inzwischen eine „Regierung der nationalen Verständigung“ gebildet, der fast alle wichtigen Parteien des Landes angehören. Dies alles sind Signale, dass sich die politische Lage im Land langsam zu stabilisieren scheint. Die wirtschaftliche Lage ist allerdings nach wie vor desolat. Aufgrund fehlender Absatzmärkte in Syrien und Irak liegt die stark exportorientierte Wirtschaft nach wie vor am Boden. Aufgrund der prekären Sicherheitslage scheuen sich internationale Unternehmen, verstärkt in den Libanon zu investieren. Die Arbeitslosigkeit liegt bei 30, die Jugendarbeitslosigkeit bei über 54 Prozent. In diesen Zahlen steckt Sprengstoff.
Hildmann: Die Lösung für die Krise im Libanon heißt: Frieden in Syrien. Bis dieser in greifbare Nähe rückt, gilt es, die bestehenden Hilfsprogramme zur Unterstützung der Flüchtlinge und zur Stabilisierung der Aufnahmegesellschaft im Libanon am Laufen zu halten und auszubauen. Deutschland geht hier bereits mit gutem Beispiel voran. Auch die Hanns-Seidel-Stiftung hat ihre Aktivitäten im Libanon im vergangenen Jahr noch einmal ausgeweitet. Andere Länder wie die ehemalige Kolonialmacht Frankreich sollten folgen. Europa sollte zur Bewältigung dieser Krise seinem Motto „Einheit in Vielfalt“ folgen, mit einer Stimme sprechen und mit vielen Armen anpacken!