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Leuchtturm im Osten
Solidarpakt: Jena hatte einst viel Industrie. Heute hat die Stadt auch noch jede Menge Forschungseinrichtungen. Wirtschaftlich geht es ihr gut. Sie baut Schritt für Schritt Schulden ab – auch mit Geld aus dem Westen. Eine Geschichte über Gerechtigkeit.
Jena blüht auf und hat einen Büroturm als Wahrzeichen: Der „Jentower“ wurde schon 1972 eröffnet und sollte laut seinem Architekten ein Fernrohr stilisieren. 2000 erhielt der Rundbau eine neue Fassade.
Foto: Mauritius Images | Jena blüht auf und hat einen Büroturm als Wahrzeichen: Der „Jentower“ wurde schon 1972 eröffnet und sollte laut seinem Architekten ein Fernrohr stilisieren. 2000 erhielt der Rundbau eine neue Fassade.
Von unserem Mitarbeiter Simon Kaminski
 |  aktualisiert: 12.04.2012 19:03 Uhr

Der Westen ist der neue Osten.“ Keiner weiß, wann und wo der Spruch aufkam. Aber er ist in Mode. Vielleicht hat ihn ein Autofahrer aus Oberhausen oder Gelsenkirchen ersonnen. Unterwegs in Richtung Jena. Unterwegs in den neuen Bundesländern. Vor dem geistigen Auge die hässlichen Schlaglöcher in seiner Heimatstadt, unter sich makellose Fahrbahndecken, vor sich ein nagelneuer Kreisverkehr.

„Jena ist nicht Osten“, sagt dazu trocken Lutz Prager und blickt durch sein Bürofenster auf den trubeligen Holzmarkt. Prager, seit 1998 Chef der Jenaer Lokalausgabe der „Ostthüringer Zeitung“, hat gewissermaßen von der ersten Reihe aus erlebt, wie sich die Stadt an der A4 entwickelt hat. Der Aufschwung der letzten Jahre führte dazu, dass Jena in den Lichtkegel der Medien geriet. Seit SPD-Oberbürgermeister aus dem Ruhrgebiet unter dem Motto „Jetzt ist der Westen dran“ eine Debatte über die Transferzahlungen für den Osten angezettelt haben, ist das Licht auf die 105 000-Einwohner-Stadt fast grell geworden.

Selbst die seriöse Wochenzeitung „Die Zeit“ ist mit von der Partie, wenn es gilt nachzuweisen, dass arme Regionen im Westen den „Luxusaufbau“ Ost finanzieren müssen und daran zugrunde gehen. Als Protagonisten für die scherenschnittartige Argumentation müssen Oberhausen und eben Jena herhalten. Zwischentöne gehen da im Verteilungskampf unter.

Prager lächelt etwas gequält, wenn er mit den Stichworten „Autobahn“ und „Orchideen“ konfrontiert wird. Tatsächlich kostete die Verlegung der A4 samt Tunnelbau stolze 232 Millionen Euro. Davon profitieren seltene Orchideenarten. Ein Umstand, der als Beweis für die Verschwendung von Steuergeldern im Osten herhalten musste. „Dass es bei dem Projekt in erster Linie um die Entschärfung eines Unfallschwerpunkts ging, haben die Zeitungen nicht erwähnt“, sagt Prager.

Unbestreitbar ist, dass die Stadt gut dasteht. Jena hat eine Arbeitslosenquote von 7,2 Prozent – in Oberhausen im Westen sind 11,5 Prozent ohne Job. Die Pro-Kopf-Verschuldung liegt bei rund 660 Euro, die Gesamtschulden betragen 66 Millionen Euro, Tendenz fallend (in Oberhausen stehen pro Kopf 8560 Euro Schulden zu Buche). Kurz gesagt, bei nahezu allen relevanten Wirtschaftsdaten liegt Jena vorne.

Nur in puncto Steuerkraft hinkt die Stadt noch hinterher. Sie erreicht rund 70 Prozent vergleichbarer Kommunen im Westen. Dennoch, der derzeit in den Medien omnipräsente Stadtkämmerer von Oberhausen, Apos-tolos Tsalastras, wäre wohl nicht überrascht, würde man ihm erzählen, dass einer der beiden Fernbahnhöfe der thüringischen Stadt den schönen Namen „Jena-Paradies“ trägt. Muss angesichts solch „paradiesischer“ Zustände nun nicht wirklich mal Schluss sein mit den Transfers?

„Wenn es im Osten Städte gibt, die auf eigenen Beinen stehen können, dann ist Jena sicher mit dabei“, hat Oberbürgermeister Albrecht Schröter gesagt. „Na also, worauf warten wir noch? Der Soli muss weg!“, schallte es von der Ruhr zurück. Da nützte es dem SPD-Politiker wenig, dass er im Fernsehen fast beschwörend hinzufügte, dass viele andere ostdeutsche Städte noch auf den Solidarpakt II, der regulär bis 2019 läuft, angewiesen sind.

„Na ja“, sagt Götz Blankenburg, Amtsleiter der Kämmerei, auf die Frage, ob Jena denn tatsächlich auf eigenen Beinen stehen könnte. Er macht folgende Rechnung auf: Der Freistaat Thüringen verfügt über ein Haushaltsvolumen von rund neun Milliarden Euro, eine Milliarde davon kommt aus dem Solidarpakt. Davon wiederum geht knapp ein Drittel, also gut 300 Millionen, an die Kommunen. Davon bleiben in Jena etwa 15 Millionen Euro hängen. Die Stadt feierte 2011 einen Rekordüberschuss von 20 Millionen Euro. „Wir hätten also ohne Soli nur noch fünf Millionen Euro zur Disposition. Das würde natürlich auch zulasten der Investitionen in Soziales oder Kultur gehen. Die Menschen würden das deutlich zu spüren bekommen“, so der Kämmerer.

Blankenburg, der aus Fallersleben bei Wolfsburg kommt – strukturschwaches Zonenrandgebiet der alten Bundesrepublik also –, studierte ab 1995 in Jena. Und ist geblieben. Zunächst an der Universität, dann in der Stadtverwaltung. Sein erster Haushalt als Kämmerer im Jahre 2004 war noch von Defiziten geprägt. „Wir mussten Einschnitte vornehmen. Da habe ich mir Feinde gemacht.“ Dann begannen die Einnahmen aus der Gewerbesteuer zu sprudeln: Landeten 2004 noch 20 Millionen Euro in der Stadtkasse, werden es 2012 schon rund 54 Millionen sein. Die Stadt konnte in die Infrastruktur investieren. Gefragt sind dabei bisweilen auch unorthodoxe Ideen. Die florierende kommunale Wohnungsgesellschaft wurde für 45 Millionen an die Stadtwerke verkauft, die pro Jahr 4,5 Millionen an die Stadt zurückzahlen. „Mit dem Geld haben wir Schulen und Kindergärten saniert“, sagt Blankenburg, der nun in den nächsten Jahren in neue Schulen und 600 neue Kindergartenplätze finanzieren muss. „Schönere Probleme kann ein Kämmerer gar nicht haben“, sagt der 41-Jährige.

Oberbürgermeister Schröter, der seit 2006 im Amt ist, bestreitet gar nicht, dass das Geld aus dem Westen von unschätzbarem Wert für Jena war und ist. „Doch die positive Entwicklung fällt nicht vom Himmel.“ Zäh arbeite die Stadt, die ein Neuverschuldungsverbot in die Hauptsatzung aufgenommen hat, am Schuldenabbau. Schröter hofft, dass die Kernverwaltung bis 2018 schuldenfrei ist. Der OB ist davon überzeugt, dass in Zukunft nicht mehr nach dem Ost-West-Schema gefördert wird, sondern „strukturschwache Kommunen in ganz Deutschland gezielt unterstützt werden müssen“. Allerdings nicht nach dem Grundsatz „Das meiste Geld für die Bedürftigsten“, sondern nach dem Motto „Hilfe für Städte, die ihre Effektivität nachweisen“.

Doch warum gelingt in Jena, was in den meisten ostdeutschen Städten utopisch erscheint? Schließlich schien die Lage 1990 ausweglos zu sein. Das Optik-Unternehmen Zeiss entließ 16 000, Schott-Glas 3000 Mitarbeiter. Prager hat eine einfache Erklärung dafür, warum es in der Situation nicht zum Knall kam: „Die Leute wurden schlicht mit Geld ruhiggestellt.“ Es gab Frühverrentungen ab 55 Jahren und jede Menge Umschulungen. Aber die triste Lage hinterließ Spuren. „Damals beherrschten mancherorts Glatzen, sprich Rechte, das Straßenbild“, erinnert sich Prager. In den 90ern formierte sich eine schlagkräftige Neonazi-Szene. An diese Zeiten wurde Jena schmerzhaft erinnert, als die Mordserie der „Zwickauer Terrorzelle“ Schlagzeilen machte. Denn Uwe Bönhardt, Uwe Mundlos und Beate Zschäpe vom Nationalsozialistischen Untergrund (NSU) wuchsen nicht in Zwickau, sondern in Jena auf. Schröter begegnete dieser Vergangenheit offensiv. Für sein Engagement erhielt er 2011 den „Preis für Zivilcourage“.

Wenn die Wendezeit tatsächlich so etwas wie der „Wilde Osten“ war, dann hieß der „Revolverheld“ Lothar Späth. Ein Revolverheld auf der Seite der Guten – so wird der Jenenser Ehrenbürger und frühere baden-württembergische Ministerpräsident zumindest in der Stadt gesehen. Späth heuerte im Juni 1991 als Geschäftsführer der Jenoptik GmbH, dem Rechtsnachfolger des VEB Carl Zeiss Jena, an. Zuvor hatte er im Zuge der Affäre um private „Traumschiffreisen“ als Landesvater abdanken müssen.

Lutz Prager erinnert sich daran, wie „Cleverle“, so Späths Spitzname, vor einem Jahr bei einem Auftritt in Jena entwaffnend ehrlich über seinen damaligen Auftrag gesprochen hatte. „Ich sollte Zeiss abwickeln und dann den Schlüssel wegschmeißen“, sagte Späth. Genau das konnte und wollte der „Macher“ Späth nicht. Der CDU-Politiker ließ seine Kontakte spielen, tarnte und trickste. Er kaufte Firmen, verkaufte Immobilien, baute neu und brachte das Unternehmen 1998 an die Börse. „Heute würde das alles so gar nicht mehr gehen“, sagt Prager. Auch wenn jetzt keiner mehr so ganz genau wissen will, was Späth damals im Detail alles getrieben hat, bestreiten auch seine Gegner nicht, dass es ihm gelungen ist, das Potenzial der Stadt zu wecken. Ressourcen, die in der Industriegeschichte der Stadt angelegt sind.

In den Sparten Glas und Optik war die Stadt schon im 19. Jahrhundert hoch spezialisiert. Eine Tradition, die weiterlebt. Hinzu kommt neben hochkarätigen Forschungsinstituten die angesehene Friedrich-Schiller-Universität mit rund 25 000 Studenten, die dafür sorgen, dass Jena heute eine sehr junge Stadt ist. Ein Reservoir zudem für die vielen Technologiefirmen vor Ort. Ein Reservoir aber auch für das Nachtleben, das in Jena mindestens so lebendig ist wie in westdeutschen Universitätsstädten. Allerdings gleichen sich auch längst die Probleme. So wird es nicht nur für Studenten immer schwerer, eine Wohnung zu finden. Auch Erfolgsstorys haben eben eine bittere Seite. Im Umkehrschluss könnte man also sagen: „Der Osten ist der neue Westen.“ Zumindest, was Jena betrifft.

Jena, Stadt der Wissenschaft

Auszeichnung: Jena erhielt den Titel „Stadt der Wissenschaft 2008“.

Grundlage: Die Stadt begann, sich in der zweiten Hälfte der 90er Jahre als Zentrum für Wissenschaften und Forschung zu etablieren. Die Schiller-Universität wurde Schritt für Schritt modern ausgebaut.

Die Institute: Ansässig sind drei Einrichtungen des Max-Planck-Instituts, das Fraunhofer-Institut, das Leibniz-Institut, das Friedrich-Loeffler-Institut sowie das Institut für Photonische Technologien. ska

 
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