Wenn es stimmt, dass die Alten der Wahrheit näher sind, dann könnte die Idee mit dem Phantomschmerz auch Unsinn sein. Nino, 83, der gerade ein Päuschen an der kniehohen Kaimauer des Hafens der Insel Giglio eingelegt hat, trägt einen Sonnenhut, ein weißes Hemd, dessen oberste Knöpfe offen sind, und blickt aufs Meer. Er hält in seiner Linken die Zeitung, rechts einen Stock. „Wenn sie sie endlich weggebracht haben“, sagt der Inselbewohner, als spräche er über eine uralte Nachbarin, „dann wird alles sein wie vorher“.
Giglio, die Lilien-Insel. In kristallinem Meer vor der Küste der Toskana gebettet. Einst ein Geheimtipp – wegen dieses überdimensionalen Fremdkörpers seit über 30 Monaten den Blicken der Weltöffentlichkeit preisgegeben. Wenn man die nur ein paar Hundert Meter lange und wegen der vielen Geschäfte, Restaurant-Terrassen, Touristen, Arbeitern und Journalisten sehr enge Hafenpromenade entlanggeht und einmal nicht den Blick hinaus auf das Wrack der „Costa Concordia“ wendet, dann kommt man trotzdem nicht an ihr vorbei. Sie ist in aller Munde, immer. Und das ist der Grund, warum sich die Frage aufdrängt, ob der Insel Giglio etwas fehlen könnte. Wie ein Körperteil, das plötzlich nicht mehr da ist.
Am Mittwoch soll sie weggebracht werden, von ihrem Wirtstier abgenabelt. Oder war es die Insel, die sich in den letzten zweieinhalb Jahren zwangsläufig an das Schiff geklammert hat? Über ein Dutzend Schiffe werden wie Sargträger den verrosteten und ramponierten Schwimmkörper über 350 Kilometer bis in den Container-Hafen von Genua-Voltri begleiten. Im würdigen Schritttempo von zwei Knoten, knapp vier Stundenkilometern. In Genua soll die von einer gigantischen Krause aus 30 luftgefüllten Stahlcontainern ummantelte „Costa Concordia“ verschrottet werden (lesen Sie dazu den Beitrag unten).
Ein öffentliches Ereignis
Der Trauerzug für den über 60 Meter breiten und 290 Meter langen Sarg: zwei Schlepper, die das Wrack an Titan-Seilen ziehen, ein Boot mit Meeresbiologen, die dafür sorgen sollen, dass sich Delfine dem Konvoi nicht zu sehr nähern. Zwei Schiffe der Küstenwache, dahinter vier Boote, die eventuell aus dem Stahlkadaver austretende Objekte oder Flüssigkeiten einsammeln, zwei Ersatz-Schlepper, ein Laborschiff sowie ein Schiff mit einem Kran. In der Luft bilden ein Aufklärungsflugzeug sowie ein Helikopter das letzte Geleit der „Costa Concordia“. Der Luftraum wird gesperrt, auch zu Wasser darf sich auf sechs Kilometer niemand dem Wrack und seinen Begleitern nähern – sieht man einmal von ein paar Booten ab, von denen von den Organisatoren autorisierte Kamerateams und Fotografen Bilder in die Welt versenden. Natürlich ist auch die letzte Reise der „Costa Concordia“ ein öffentliches Ereignis.
Es handelt sich ja nicht nur um ein in der Unglücksnacht des 13. Januar 2012 mit über 4200 Menschen besetztes Kreuzfahrtschiff, das wegen eines waghalsigen Manövers einen Granitfelsen vor Giglio rammte und dann halb unterging. 32 Menschen kamen ums Leben, darunter zwölf Deutsche. Von diesem Moment an war die „Costa Concordia“ auch ein Objekt der Projektionen, welches das menschliche Bedürfnis nach Gefühlen wie Empörung, Unglauben, Neugier, aber auch nach Helden und Versagern stillte. Kapitän Francesco Schettino zum Beispiel, der sich wegen fahrlässiger Tötung vor Gericht verantworten muss und als „Kapitän Feigling“ zum Prototyp einer vermeintlich südländischen Verantwortungslosigkeit wurde. Anstatt als Letzter das sinkende Schiff zu verlassen, machte sich Schettino rasch davon. Seine Verantwortung als Kapitän ist unbestritten. Ob er aber wirklich das Manöver verantwortete und auch die vielen Pannen bei der Evakuation des Schiffs, muss vor Gericht erst noch festgestellt werden.
„Um das Trauma zu überwinden“
Auf dem Foto, das Helmut Buttkus in einem Kuvert mit sich trägt, sieht man Schettino in weißer Kapitänsuniform und mit halb langem, von Pomade getränktem Haar. Neben ihm auf dem Bild, am Abend des Kapitäns-Dinners, wenige Tage vor dem Unglück: Buttkus, 79, in Anzug und Krawatte, sowie seine Lebensgefährtin Ilse Kischlat, 78, im eleganten Abendkleid. Die beiden kommen aus Berlin-Zehlendorf. „Man merkte“, sagt Buttkus, „dass er auf den Handschlag nicht besonders viel Lust hatte“. Das Paar steht in leichten Sommerkleidern vor der Kirche im Hafen von Giglio. Im Hintergrund bekommt die verrostete „Costa Concordia“ ihre letzten Zentimeter Auftrieb. Während Buttkus beim Erzählen viel lacht, verrät vor allem Ilse Kischlats Blick, dass die Unglücksnacht noch immer in ihr herumspukt. Sie berichtet von den Schlägereien um die Plätze in den Rettungsbooten, als das Schiff zu sinken begann. Von der Todesangst.
„Wenn man jetzt nach zweieinhalb Jahren wieder hier steht, dann ist das Gefühl, davongekommen zu sein, doch sehr stark.“ Das Paar wollte noch einmal nach Giglio kommen, bevor das Wrack abtransportiert wird. „Um das Trauma zu überwinden“, sagt Buttkus. „Um Abschied zu nehmen“, sagt Kischlat. Sie wollen sich auch beim Pfarrer Don Lorenzo bedanken für die Hilfe in der Unglücksnacht. Für die warmen Decken, das Brot, die Bonbons und das Kirchendach über dem Kopf. Natürlich sei das alles „technisch unglaublich faszinierend“, sagt Buttkus. Er meint die Ingenieursleistung zu der 1,5 Milliarden Euro teuren und von den Versicherungen der Reederei bezahlten Bergung, deren Details auch die meisten Schaulustigen am Hafen auswendig kennen: Die wegen des harten Granitbodens beinahe gescheiterte Installation einer Unterwasserplattform unter dem Rumpf der schräg auf den Felsen liegenden Costa Concordia. Das „Parbuckling“, die Aufrichtung des Wracks in einer beinahe 20 Stunden dauernden Aktion im September. Dann das langsame Aufschwimmen mit den am Rumpf befestigten 30 Stahlcontainern, die in den vergangenen Tagen mit Pressluft gefüllt wurden und Millimeter für Millimeter das ganze Schiff wieder zum Vorschein gebracht haben.
Ein Rattenschwanz von Neugierigen
Den Namen des Helden, der dieses scheinbar titanische Unterfangen, die Bergung des größten Schiffswracks der Welt, koordiniert, kennen alle auf Giglio: Nicholas Sloane, 53 Jahre alt. Sie nennen ihn „Nick“. Obwohl etwa 500 Arbeiter, Taucher und Techniker im Auftrag der beiden für die Bergung engagierten Firmen Titan und Micoperi Tag und Nacht am Abtransport der „Costa Concordia“ arbeiten, hat die Öffentlichkeit für Sloane die Heldenrolle vorgesehen. Wenn er von seinem Hotel morgens zum Frühstück in die „Bar Fausto“ am Hafen geht, dann zieht er oft einen Rattenschwanz von Neugierigen hinter sich her. Der Südafrikaner wirkt nahbar, unkompliziert, mit dem rauen Charme eines Seebären. Er tritt in Jeans und Polo-Shirt auf, am Wochenende auch mit Ehefrau und Dackel. Er kann das, was man von Menschen nicht erwartet: einen von Piraten gekaperten, brennenden Öltanker auf hoher See in Sicherheit bringen, Schiffe im offenen Meer zersägen, Bohrinseln in Sicherheit bringen. Sloane ist der Anti-Schettino. Der Mann, der das Schiff wieder aufgerichtet hat und es sicher nach Genua bringen wird.
Zusammen mit elf Ingenieuren in einem als „Control Room“ auf dem obersten Deck des Wracks installierten Container wird er der letzte Passagier der „Costa Concordia“ sein und auf der Überfahrt die Daten der 4800 über das Wrack verteilten Sensoren per Computer überwachen. Sloane behauptet, die Operation sei die bislang schwierigste seiner Karriere. „Das Einzige, wovor ich Angst habe, ist das Wetter“, sagt er. Vor allem, wenn es hinter Korsika die letzten 48 Stunden bis Genua ins offene Meer geht.
Viele Inselbewohner werden am Kai stehen, wenn die „Costa Concordia“ auf ihre letzte Reise geht. Werden sie jubeln, winken, erleichtert sein? „Giglio verdient es nicht, den Menschen nur wegen der ,Costa Concordia' in Erinnerung zu bleiben. Es wird eine Befreiung. Wir werden die Concordia so schnell wie möglich vergessen“, sagt Angelo Milano, der Präsident des lokalen Tourismusverbands. Über den Phantomschmerz heißt es auch, er trete zuweilen mit Verzögerung auf.
Die Unglücksnacht
Die „Costa Concordia“ kenterte am späten Abend des 13. Januar 2012 vor der toskanischen Insel Giglio. Rund 4200 Passagiere und Besatzungsmitglieder befanden sich mit dem Luxusschiff auf einer Mittelmeerkreuzfahrt. Das Schiff fuhr zu nahe an die Insel und rammte einen Felsen, der ein 70 Meter breites Loch in den Rumpf des 290-Meter-Kolosses riss. Viele Passagiere saßen in festlicher Kleidung beim Abendessen, als das Schiff auf den Felsen lief. Sie hörten einen Knall, kurz darauf fiel der Strom aus. Nach der Kollision spielten sich Augenzeugenberichten zufolge dramatische Szenen an Bord ab. Wasser drang ein, das Schiff neigte sich schnell zur Seite. Unter den Passagieren brach Panik aus, viele sprangen verzweifelt ins kalte Mittelmeer. Schwimmwesten fehlten, rund um die Rettungsboote herrschte Chaos. Tausende Schiffbrüchige landeten schließlich auf Giglio. 32 Menschen starben, darunter zwölf Deutsche. Ein Opfer gilt noch immer als vermisst. Text: dpa