Jesus Christus war vor 2000 Jahren wohl das, was man heute einen spirituellen Freak nennen würde. Er zog durch eine Gegend, die man später Heiliges Land nannte und sprach absurd anmutende Mantras wie „Liebet eure Feinde“ oder „Selig sind die Sanftmütigen“. Wie damals beherzigen auch heute die meisten Menschen ganz andere Grundsätze. Über Feinde wird allgemein angenommen, man müsse sie bekämpfen. Und den Ton geben nicht die Sanftmütigen an, sondern diejenigen, die besonders laut sind. Die einfachen Lehren Jesu Christi haben also auch heute viel Potential. Die Frage ist, wieviel Potential die Gemeinschaft noch hat, die im Namen Jesu hauptamtlich und aus ihrer Perspektive exklusiv seine Lehren in der Welt vertreten will.
Nach der Rede zu urteilen, die Papst Franziskus am Sonntag zum Abschluss der viertägigen Vatikankonferenz zum Thema sexueller Missbrauch im Klerus hielt, hat die katholische Kirche keine Kraft sich zu erneuern. Zu Beginn der Tagung war es Franziskus selbst, der „Konkretheit“ forderte. Am Ende lieferte er erneut eine vage Absichtserklärung darüber, wie sich die Kirche beim Schutz von Minderjährigen engagieren will. Und er teilte aus: Gegen ideologische Polemiken und journalistische Kritik. Ideologie und Presse sind die liebsten Feinde derjenigen, die sich in die Ecke gedrängt fühlen. Von den sanftmütigen, reuigen Blicken, die auch Franziskus in den vergangenen Tagen erkennen ließ, war am Sonntag keine Spur mehr.
Um Bekenntnisse und Ankündigungen weiter ernst nehmen zu können, ist zu viel passiert in der Kirche. Man muss gar nicht weit in die Vergangenheit und auf die jüngsten Enthüllungen in den USA oder Chile blicken. Allein während des Pontifikats Jorge Bergoglios seit 2013 sollen über 2200 katholische Priester von Bischöfen im Vatikan wegen Missbrauchs angezeigt worden sein. Jeden Tag wird damit durchschnittlich ein Priester im Vatikan gemeldet, dem glaubwürdig Missbrauch vorgeworfen wird. Die Kirche hat das Missbrauchs-Drama nicht im Griff, es ist noch immer in vollem Gange. Aber sie kommt selbst nicht in die Gänge, wenn es darum geht, ganz konkrete Maßnahmen zügig wirksam zu machen. Wieder wurde jetzt die Öffentlichkeit vertröstet, wieder wurden Ankündigungen von Gesetzen und der Einrichtung sogenannter Task-Forces gemacht. Das genügt nicht mehr.
Das große Dilemma der katholischen Kirche wurde offensichtlich: Wenn der Papst nicht selbst vorangeht, irrt seine Herde umher. Es waren viele sinnvolle Vorschläge auf der Antimissbrauchskonferenz zu hören. Bischöfe schlugen die Beteiligung von Laien bei der Bearbeitung und bei der Beurteilung von Fällen pädophiler Priester vor. Feste Kontroll- und Beratungsgremien für Bischöfe wurden debattiert. Reue und Schuldbekenntnisse der Bischöfe waren zahlreich und glaubwürdig wie selten. Aber die Kluft zwischen den seit Jahren um dieselben Gedanken kreisenden Worten des Papstes und der konkreten Umsetzung dieser Elemente wurde nun überdeutlich. Anstatt zu beschleunigen und den Kinderschutz wirklich universal effektiv zu gestalten, bremst der Papst höchstpersönlich. Was hindert ihn, endlich konsequent durchzugreifen?
Franziskus müsste durchgreifen gegen jeden schuldigen Priester und Bischof und ihn entlassen
Die zentralistisch geführte Universal-Kirche beruft sich bei diesen Gelegenheiten gerne auf die kulturellen Unterschiede und Gewohnheiten, die ein ausgewogenes Vorgehen notwendig machen würden. Während in Afrika und Asien kaum offen über Sexualität oder gar Missbrauch gesprochen werden kann, sind westliche Gesellschaften viel weiter. Das ist richtig. Doch Betroffenen in den jeweiligen Kontinenten hilft man mit dieser Argumentation nicht, im Gegenteil. Die Kirche ignoriert sie weiter. Was keine Task-Force, kein Leitfaden und keine Kommission leisten könnte, das wäre das Gebot der Stunde gewesen: Franziskus müsste endlich konsequent durchgreifen gegen jeden Priester und Bischof, der sich des Missbrauchs oder seiner Vertuschung schuldig macht und ihn entlassen.
Offenbar will der zu Beginn seines Pontifikats als Revolutionär verklärte Franziskus das nicht. Eine Erklärung dafür dürfte in seiner eigenen Vergangenheit liegen. Als Erzbischof von Buenos Aires lag auch Jorge Bergoglio mehr am Ansehen der Institution als an den Opfern, selbst als Papst ist Franziskus nicht über alle Zweifel erhaben. Wie konnte der bekannte Missbrauchstäter und inzwischen laisierte Ex-Kardinal Theodore McCarrick mit päpstlichen Sondermissionen betraut werden? Und warum bekam Bischof Gustavo Zanchetta, ein Landsmann des Papstes, dem Missbrauch vorgeworfen wird, 2017 plötzlich einen sicheren Posten im Vatikan? Null Toleranz, das hieße, sich auch zu den eigenen, ganz persönlichen Fehlern zu bekennen. Dazu ist dieser Papst nicht bereit.