
Schwangau im Januar. Hier herrscht echt tote Hose, wie man umgangssprachlich so schön sagt. Einige subjektive Zahlen gefällig? Die im Kurpark herumspazierenden Touristen lassen sich an einer Hand abzählen. Und auf dem riesigen Parkplatz vor der Tegelbergbahn sind nicht einmal ein Dutzend Autos abgestellt. 18 Leute wurden bis Mittag mit der Kabinenbahn hochtransportiert, an guten Tagen sind es Tausende.
Um die berühmten Königsschlösser wabern Wolkenschwaden. Auf der anderen Seite zieht sich eine schmale Zunge aus Altkunstschnee parallel zum Schlepplift den Berg herunter. Rechts und links davon ist das Gelände grün, braun und matschig. Keine Spur vom „leiwanden (deutsch: tollen) Schifoan“, wie es Wolfgang Ambros besingt.
Malte man die Szenerie an diesem Tag impressionistisch, würde ein ziemlich düsteres Gemälde entstehen. Schwangau ist gerade ein ganz anderer Ort als der auf den Postkarten abgebildete. Da ist der Himmel im Sommer blau und die Winterlandschaften sind prächtig weiß. Der Wirklichkeit fehlt derzeit dieser Zauber, wie ihn sich Fremdenverkehrsmanager wünschen.
Petra Köpf, die Schwangauer Tourismusdirektorin, zeigt sich trotzdem unverzagt: „Der Winter kommt schon noch“, glaubt sie. Zurückblickend könnte man auch sagen: Er hat im vergangenen Dezember bereits ein kurzes Gastspiel gegeben. „Alles war bestens präpariert. Aber dann kamen die Föhnstürme über Weihnachten, die den Schnee wegschleckten“, erzählt Köpf. Plötzlich sei es wie im Frühjahr gewesen. Selbst mit Schneekanonen habe kein Kunstschnee mehr produziert werden können. Die Ansage heißt seitdem: Pisten und Loipen grün.
Schwangau ist übrigens keine Ausnahme. Überall in den bayerischen Alpen herrscht akuter Schneemangel, in den Mittelgebirgen wie dem Schwarzwald oder dem Bayerischen Wald erst recht. Bei den derzeitigen Temperaturen ist Wintersport nur in Hochgebirgsregionen möglich. In Garmisch mussten sogar die Ski-Weltcuprennen abgesagt werden.
Die wenigen Touristen, die einem in Schwangau über den Weg laufen, sind aber trotz des Schneemangels nicht enttäuscht: „Ich bin mit meiner Freundin da und wir feiern unseren Studienabschluss. Wir genießen die Zweisamkeit unabhängig vom Wetter“, plaudert ein junger Mann aus dem Württembergischen. Ein älteres Ehepaar übt sich in Fatalismus: „Wir würden zwar gerne Skifahren, aber so gehen wir eben spazieren – auch gut.“
Wie bestellt, strampelt in diesem Moment ein Biker mit Rucksack die Straße entlang. Radeln gehört auch zu den alternativen Winterbewegungsvarianten. Das Gros der „Touris“ aber tummelt sich in der Therme. Dort sind fast alle Parkplätze belegt. Mitarbeiter im Tourismus-Büro kommentieren die Situation mit Sinn für Pragmatismus. „Geht's Skifahren, ist es auf den Pisten voll, geht's nicht – im Bad.“ Der Trend gehe zum Schwimmen, Saunieren und Massieren.
760 000 Übernachtungen wurden 2012 in dem 3500-Einwohner-Ort gezählt – inzwischen deutlich mehr im Sommer und Herbst als im Winter. Das Erstaunliche aber ist: Die Zahl der Touristen nahm in Schwangau in den vergangenen Jahren trotz schlechter Winter zu. „Wir sind übers ganze Jahr hinweg gut aufgestellt“, sagt Petra Köpf. Und selbst in schneearmen Jahren habe der Ort am Fuße von Schloss Neuschwanstein noch einiges zu bieten: Dazu gehört die Wildfütterung jeden Nachmittag, ein Touristenmagnet für die ganze Umgebung. Auch gibt es mehrere Museen und eben die Therme. Schwangau sieht sich gerüstet für den Klimawandel. Zumal Hochgebirgs-Skigebiete wie im Tannheimer Tal oder Oberstdorf in erreichbarer Nähe sind.
Ähnlich sieht es im nur 23 Kilometer entfernten Nesselwang aus. Hier fehlen zwar die märchenhaften Königsschlösser, die in Schwangau jährlich mehr als 1,7 Millionen Menschen anziehen. Stattdessen gibt es andere ausgefallene Angebote. Marketingleiterin Yvonne Dischler erzählt, wie es gelungen sei, immer mehr Touristen in den Heimatort des früheren Ausnahmebiathleten Michael Greis zu locken. Zu den Spezialitäten von Nesselwang gehört das Langlaufen mit Gewehr. Weil das zurzeit nicht möglich ist, joggen die Sportler die Strecke zwischen den Schießständen. „Das soll auch Spaß machen“, beteuert die PR-Dame.
Außerdem gibt es neuerdings den Alpspitz-Kick, die längste Seilrutsche Deutschlands, mit der man mit Tempo 120 zu Tale rasen kann. „Solche Einrichtungen retten uns über den Winter“, sagt Dischler. In Nesselwang sei zwar eine Piste an der Alpspitze, dem Hausberg, bis vor drei Tagen offen gewesen. Inzwischen ist aber auch sie weitgehend Matsch. Auch in Nesselwang motzen die Touristen nicht über die grünbraune Landschaft. Die meisten gehen einfach wandern, sagt Dischler, oder – wie die sportliche Variante heißt: Nordic walken. Diese Entwicklung, der übrigens auch immer mehr junge Leute folgen, kommt den bayerischen Tourismusorten entgegen. Denn in den schneearmen Wochen gab es viele sonnige Tage. Da fühlte sich der Urlauber wohl – auch zu Fuß.
Zurück nach Schwangau. Dass gerade so wenig los ist, sei nichts Ungewöhnliches, erklärt Bürgermeister Reinhold Sontheimer. Der Januar gelte im Wintertourismus grundsätzlich als schwacher Monat, weil nirgendwo Ferien sind. Der Dezember sei aber ausgebucht gewesen. „Uns ist also gar nicht bang“, so der Rathauschef.
Überhaupt wollen die Schwangauer noch Touristenpotenzial für längere Aufenthalte heben – die Schlossbesucher nämlich, die nur einen Tag bleiben. Das ist trotz einiger Versuche, etwa mit dem Füssener Festspielhaus, bisher nicht gelungen. Konkrete Ideen dazu gibt es allerdings noch nicht. Doch auch ohne diese Millionenschar scheint die Gemeinde gut aufgestellt, zumal Nebelwetter wie an diesem Tag die Ausnahme ist.
Trotzdem gibt es in Schwangau Geschäfte, die unter diesem Winter extrem leiden. Im Restaurant der Tegelbergbahn sitzt beispielsweise Leonhard Waitl alleine am Tisch. Es ist Mittagszeit, die große Gaststätte ist praktisch leer. „Wenn ich nicht noch eine Drachenflugschule hätte, wäre es ein finanzielles Fiasko“, klagt Waitl. Rein von der Gastronomie könne er nicht leben. 80 Prozent des Geschäfts sind ihm in dieser Saison bisher weggebrochen.
Nicht ganz so schlimm trifft es Peter Keck, den Besitzer von Armins Sporthütte. Bei ihm lief es bis vor Weihnachten ganz gut – bis der Einbruch im Januar kam. Jetzt bestellt der einzige Kunde im Laden ein Federballnetz; der Skiverkauf lahmt, ebenso der von Wintersportbekleidung. Keck hat die Saison bereits abgehakt: Selbst wenn noch Schnee fallen würde, könne er die Ware um diese Jahreszeit nur mit 30 bis 40 Prozent Rabatt loswerden, erklärt er. Skischulbesitzerin Steffi Neumann hadert ebenfalls mit dem Winter. „Das ist ein deprimierendes Gefühl.“ Sie ringt sich dennoch ein Lächeln ab. Der Unterricht finde derzeit in den hoch gelegenen Skigebieten statt. Doch die Kurse für Kindergartenkinder und Schüler am Tegelberg müssten von Woche zu Woche verschoben werden.
Noch ist nicht ganz klar, wie sich das Wetter in den kommenden Wochen entwickeln wird. Das zeigen Zahlen des Deutschen Wetterdienstes. Danach liegen die Temperaturen im neuen Jahr bislang stattliche fünf Grad über dem durchschnittlichen Wert für einen Januar, meldet Meteorologe Christian Herold. Da zuvor auch schon der Dezember drei Grad zu warm war, handelt es sich aktuell um den zweitwärmsten Winter seit Beginn der flächendeckenden Wetteraufzeichnungen im Jahr 1901. Allein 2006/2007 war es noch ein paar Grad wärmer. Ob es in absehbarer Zeit über einen längeren Zeitraum ausreichend kalt wird, ist ungewiss. Der Deutsche Wetterdienst jedenfalls gibt sich zurückhaltend. Zwar ist von winterlichen Temperaturen die Rede. Aber vorwiegend nachts.
Winter wie dieser könnten zur Regel werden. Auch im vergangenen Jahr schneite es in Schwangau nämlich erst ab dem 19. Januar. Kommen auf deutsche Wintersportorte schwierige Zeiten zu? Aufgrund des Klimawandels werden langfristig nur ein bis zwei Skigebiete in Deutschland übrig bleiben. Das unterstreicht eine Studie von Jürgen Schmude, Geografieprofessor an der Ludwig-Maximilians-Universität in München, die demnächst im Fachmagazin Tourism Economics erscheint. Wie dessen Modellrechnung zeigt, wird es künftig immer weniger ideale Skitage geben und diese werden sich zeitlich verschieben. Der Wissenschaftler nennt das Phänomen „Christmas-Easter-Shift“: „Es gibt dann keine weißen Weihnachten mehr, sondern die Skisaison findet eher im März und April statt“, sagt Schmude. Diese Veränderungen bedeuteten einen Paradigmenwechsel: Man müsse sich künftig darum kümmern, dass die Gäste auch an Ostern noch Lust zum Skifahren haben.
Petra Köpf bleibt trotz der Prognose gelassen: „Wir sind ja kein reiner Skiort. Unsere Stärke ist die Vielseitigkeit.“ Heutzutage wäre ein frühzeitiger Kälteeinbruch im August für die Entwicklung der Gästezahlen schlimmer als ein frühlingshafter Winter.
Kunstschnee
Kunstschnee-Erzeuger werden in Wintersport-Gebieten eingesetzt, wenn durch zu geringen Schneefall oder Tauwetter die Pisten schmelzen würden. Es gibt unterschiedliche Geräte: Eiskanone, Druckluftkanone, Propellerkanone oder Schneelanze.
Die Eigenschaften von Schnee hängen von der Form der Schneekristalle, der Temperatur und vom Flüssigwassergehalt ab. Kunstschnee unterscheidet sich in seiner Struktur (30-350 Mikrometer, Kugelform) von Neuschnee (50-100 Mikrometer, sechseckig). Weil zudem seine Dichte höher ist als die von Naturschnee, schmilzt er nicht so schnell.
Umweltschützer kritisieren Kunstschnee. Grund: Der enorme Wasser- und Energieverbrauch. So benötigen die rund 19 000 Schneekanonen in Österreich jährlich so viel Energie wie eine 150 000-Einwohner-Stadt und so viel Wasser wie Hamburg.