Nur Vögel singen unverdrossen in die Stille hinein, als wäre nichts passiert. Cavezzo in der norditalienischen Emilia-Romagna – rund 80 Prozent seiner 7300 Einwohner sind jetzt obdachlos. Eingestürzte Fabrikhallen begruben bei dem starken Beben vom Dienstag drei Arbeiter unter sich. Das schmucke Einkaufszentrum gleich am zentralen Piazza Matteotti steht nicht mehr, die Kirche und viele Häuser auch nicht. Trümmer über Trümmer, daneben schicke Klinkerbauten mit Rissen, alles jetzt ein abgesperrtes geisterhaftes Gelände.
Giusy Tuccillo hat das linke Bein bis zum Knie in Gips. „Ich war gerade in der Kaffeebar, da ging es wieder los. Beim Herausrennen bin ich gefallen und habe mir den Fuß gebrochen.“ Jetzt sitzt die 36-jährige Italienerin mit hochgelegtem Gipsbein auf zwei weißen Plastikstühlen im Freien, weit weg von den Trümmern, neben sich ein Zelt mit Bettpritsche, über sich Bäume, die vor der heißen Sonne schützen. Ihre Eltern und ihre 14-jährige Tochter leisten ihr Gesellschaft. „Meine Kleine hat Glück gehabt, nämlich weniger von den neuen starken Stößen gemerkt“, erzählt Giusy.
Beim ersten Beben am 20. Mai gab es in Cavezzo nicht so viele Schäden: „Doch wir Eltern haben uns trotzdem dagegen gewehrt, die Schule wieder zu öffnen.“ Und so würden seitdem alle Cavezzo-Schüler in einem Zelt unterrichtet. Jede Menge Kinder sind um Giusy herum und wirken in der Tat nicht so mitgenommen wie ihre Mütter und Väter. Es gibt gerade Kuchen, freiwillige Helfer aus dem mittelitalienischen L'Aquila, wo 2009 ein ebenso starkes Erdbeben passierte, verteilen ihn.
„Jetzt kriegen wir einen neuen Fernseher“, die achtjährige Letizia freut sich schon. Auch sie war beim starken Beben in der Zeltschule. Ihre Mutter Rita Martinelli (47) hat sich aber aus dem vierten Stock retten müssen: „Erst habe ich unter der Wohnungstür gewartet, bis das starke Beben vorbei war, dann bin ich herunter.“ Inzwischen habe ihr Mann in Begleitung eines Feuerwehrmannes ein bisschen Unterwäsche aus der Wohnung geholt und gesehen, was alles kaputt ist: „Kristall alles in Scherben, alle Möbeltüren sperrangelweit offen, und der Fernseher liegt zerstört auf dem Teppich.“
Wie es weitergeht? „Im Moment ist nur Gegenwart“, sagt Giusy tapfer. Vielleicht sei ja ihr Einfamilienhaus heilgeblieben, von außen sehe es so aus: „Doch wir wagen uns natürlich nicht hinein, schließlich gehen die Stöße weiter.“ Auch in diesem Moment bebt die Erde unter den Füßen. Ja, und ob ihr Job gerettet sei, das wisse sie auch nicht: „Ich arbeite im Nachbarort in der Lebensmittelindustrie, da hat es im Gebäude auch Schäden gegeben.“
Ob ihre Firma noch steht, das beschäftigen Giusy und alle anderen in der Zeltstadt ebenso viel wie die Fragezeichen um ihr eigenes Heim. Medizintechnik, Birnenproduktion, Herstellung von Parmesankäse und von Modenas berühmtem Aceto balsamico, auch Lambrusco-Weine sind hier zu Hause. Cavezzos Industriezone liegt an einer langen Straße, ein Werk neben dem anderen. Von mancher Fabrik steht nur noch die Fassade. Ebenso sieht es in Nachbarorten wie Mirandola, Medolla und San Felice sul Panaro aus. Fast alle der insgesamt 17 Erdbebentoten kamen am Arbeitsplatz um. Viele waren erst in den vergangenen zehn Jahren gebaut oder hochtechnisch modernisiert worden. Obwohl offenbar neue Bauvorschriften gegen Erdbebengefahr nicht beachtet worden waren, erhielten diese Fabrikhallen trotzdem das amtliche Ja bei der Sicherheitsprüfung.
Ob da nachlässiges Handeln oder gar Korruption bei Kontrollbeamten eine Rolle gespielt haben könnte? Italienische Medien vermuten es und die Staatsanwaltschaft ermittelt bereits. Jedenfalls sind 500 Betriebe stark mitgenommen, 13 000 Arbeitsplätze in Gefahr. Der regionale Arbeitgeberverband spricht von mindestens fünf Milliarden Euro Schäden, was einem Prozent des nationalen Bruttosozialproduktes entspricht. Das trifft das ohnehin tief in der Krise steckende Italien hart.
Man sorgt sich vor allem, dass diese bedeutende Produktionszone der Emilia-Romagna längere Zeit ausfallen könnte, weil wegen der anhaltenden Erdstöße an sofortigen Wiederaufbau nicht zu denken ist. Selbst die Autoproduktion der Luxusmarken Ferrari, Maserati und Lamborghini, im weiteren Umkreis der Erdbebenzone ansässig, befürchtet Einbußen. Denn etliche ihrer Autozubehör-Firmen sitzen im Katastrophengebiet, sind entweder teilzerstört oder müssen geschlossen bleiben, bis Sicherheitsprüfungen stattgefunden haben.
„Keiner darf derzeit mehr Fabrikgebäude betreten“, hat Bürgermeister Maino Benatti von Mirandola angeordnet, sich damit aber auch den Zorn von Mitbürgern zugezogen. Denn viele der Menschen in der Emilia-Romagna möchten so schnell wie möglich wieder zur Arbeit gehen – aus der Sorge heraus, ihre Firmen würden anderswohin und vielleicht gar ins Ausland verlegt.
Wie lange es noch so weitergehe – rund 30 Nachbeben allein Freitagnacht und weitere tagsüber – und ob es noch mal ganz starke Stöße geben werde, wisse niemand. „Der aktuelle Kenntnisstand erlaubt keinerlei Voraussagen“ – die Mitteilung des Zivilschutzes macht wenig Mut. Es könne Monate, vielleicht wie vor mehreren Jahrhunderten gar einige Jahre dauern, wird in Medien prophezeit.
Über 100 Kilometer weiter bekommt das bereits die Adriaküste zu spüren. Schon sind in Hotels Absagen von ausländischen Touristen eingetroffen, die seit Monaten vorgebucht hatten. Die ersten schweren Beben wurden hier nur ganz leicht registriert. Und Schäden in Badeorten gab es überhaupt nicht. Seebäder sind längst geöffnet und derzeit läuft noch der Pfingsttourismus auf Hochtouren. Erdbebengeschädigte und viele Deutsche sind die meisten Gäste in den Hotels. „Leichtes Beben spüren wir manchmal in München auch. Deswegen brechen wir keinen Urlaub ab“, nimmt ein Ehepaar aus der bayerischen Landeshauptstadt es gelassen. Wir treffen die Mittfünfziger auf dem traditionellen Markt des hübschen 30 000 Einwohnerstädtchens Cervia an der Adria.
Dort wimmelt es an diesem Tag geradezu von Deutschen, die T-Shirts, Badehosen und Strandtücher kaufen. „Natürlich verfolgen wir das Erdbeben, in unserem Hotel ist auch eine Familie von dort“, sagt Siggi P. (43) aus dem fränkischen Windsheim. Der Vater in Shorts kauft gerade mit Sohn Simon (9) und den Zwillingstöchtern Sandrina und Vanessa (7) Marktutensilien ein. Er sei zum vierten Mal in Pinarella/Cervia. Diesmal habe er sich vorher vorsichtshalber bei seinem Hotelier über die Lage informiert: „Doch ich sah keinen Anlass, nicht zu kommen.“ Die Kinder, und das sei zweifellos lehrreich, würden sich die Katastrophenberichte im Fernsehen ansehen. Ebenso berichten deutsche Gäste eines Vier-Sterne-Hotels gleich hinterm Strand, die ein Tennisturnier austragen.
Obdachlose erst mal aus der Katastrophenzone heraus an die Adria zu evakuieren – von diesem Angebot haben bisher noch nicht sehr viele Betroffene profitiert. „Ich baue seit 40 Jahren Mauern, jetzt habe ich Angst vor Decken und Wänden.“ Maurer Pietro S. in Cavezzo veranschaulicht so, was viele zurückhält. Drei verwandte Familien sind aber mit Omas, Opas und Kleinkindern Hals über Kopf nach Cervia geflüchtet, in die elegante Hotelresidenz „Eros“, deren solidarische Besitzer ihnen Appartements mit kräftigem Preisrabatt gegeben haben. Großmutter Ione Golinelli (76) hat die linke Hand verbunden, auch eine Folge des starken Bebens vom 29. Mai in Cavezzo. Sie wollte gerade Pastateig in die Schneidemaschine stecken in ihrer Produktion für selbst gemachte Nudeln in der Via Gramsci, da kam der erste starke Stoß um 9.05 Uhr: „Der Apparat machte einen Satz nach vorn, ich wollte ihn festhalten und bin mit der Hand in die Messerklinge geraten.“ Sechs Stunden zur Verarztung im Krankenhaus, dann ein paar Sachen gepackt und ab nach Cervia. Sie kommt gerade aus dem Supermarkt und will jetzt im Hotelappartement für die Großfamilie kochen.
Die Enkelin mit den Kleinkindern werde wohl vorläufig hierbleiben, deren Mann tagsüber hin- und herpendeln. Doch sie würde Sonntag wieder heim nach Cavezzo fahren, obwohl sie hier in Cervia auch länger gern gesehene Gäste sein könnten. „Unser Haus hat zwar keine großen Schäden abbekommen, doch vorläufig werden wir wohl im Garten ein Zelt aufstellen und dort schlafen. Oder erst mal im Auto“, sagt die 76-Jährige. Dann wird auch sie das Schicksal vieler Bürger von Cavezzo und weiteren Nachbarstädten teilen, die viel Angst haben, denen aber kein Platz in den Zeltstädten zusteht, weil sie bisher nicht obdachlos wurden.
Alle wenig betroffenen Vororte mit ihren idyllischen Häusern, die höchstens zwei Stockwerke haben sehen derzeit recht beschaulich aus. Es herrscht Sonntagnachmittag-Atmosphäre, wenn alle nach dem Essen ihren Espresso im Freien trinken. Denn überall sitzen Menschen in ihren Gärten, unter Bäumen und Sonnenschirmen. Manchmal steht jemand auf, geht ganz kurz in die Küche und holt etwas. Nachts aber kehrt niemand ins Haus zurück, nachts schlafen die Bewohner auf Sonnenliegen oder in einem Zelt.
„Wir müssen auch auf die Schakale aufpassen“, sagt Landwirt Paolo U. In der Tat wird dauernd gewarnt, Diebe seien in der Erdbebenzone unterwegs und würden selbst in gut verrammelte Häuser einbrechen. Wenn jetzt auch noch das Hab und Gut der Opfer gestohlen würde, das wäre zu viel der Katastrophe.
Daten & Fakten
17 Tote, 350 Verletzte und 15 000 Obdachlose sind die vorläufige Bilanz des Erdbebens vom Dienstag in den Provinzen Modena und Mantova der Emilia-Romagna in Norditalien. Die Zahl der Obdachlosen könne sich noch auf 17 000 erhöhen, wenn alle Häuser überprüft seien, ließ der Zivilschutz wissen. Für Montag wurde ein Staatstrauertag in Italien im Gedenken an die Erdbebenopfer ausgerufen. Text: dpa