Es ist bei einer dieser Veranstaltungen am Rande des Labour-Parteitags, als ein Mann aus dem Publikum aufsteht und die Abgeordnete Louise Haigh fast flehend um eine Antwort bittet. „Wenn ich Wahlkampf mache, was soll ich den Leuten sagen, welche Position Labour beim Thema Brexit vertritt?“ Die Parlamentarierin lächelt gequält und verweist etwas hilflos auf die nächsten Tage, in denen die Sozialdemokraten im Küstenort Brighton um einen Kurs ringen – und eigentlich zu einem Ergebnis kommen wollen. Am gestrigen Montag wollten die Delegierten darüber abstimmen, wie die Partei sich künftig positionieren soll. Die Frage nach einer Brexit-Strategie schwebt wie ein Damoklesschwert über dem Parteitag.
Labour ist tief zerstritten über Europa. Einige fordern zunächst ein zweites Referendum, erst danach soll es ihrer Meinung nach Neuwahlen geben, die wohl schon im Herbst stattfinden könnten. Andere, insbesondere der linke Flügel der Basis, meint, Labour müsse das Referendumsergebnis respektieren. Dieses Lager besteht auf der Scheidung des Königreichs von der EU. Wieder andere, es ist mittlerweile die Mehrheit, möchten Labour als lautstarken Gegenpol zu den Tories an der Spitze der proeuropäischen Remain-Bewegung sehen. Und Oppositionschef Jeremy Corbyn selbst? „Er sitzt auf dem Zaun“, wie die Briten seine Unentschiedenheit nennen.
Der altlinke Vorsitzende, selbst lebenslanger Europaskeptiker, will sich bei der wichtigsten Aufgabe der Nachkriegsgeschichte Großbritanniens schlichtweg nicht festlegen, sondern plädiert für Neuwahlen, nachdem ein ungeordneter Austritt ohne Deal am 31. Oktober abgewandt wurde. „Ich will, dass die Menschen die Möglichkeit haben, zwischen einem Verbleib in der EU und einem Austritt mit einem Abkommen zu wählen, das wir von Labour ausgehandelt haben", erklärte Corbyn seinen komplizierten Plan, mit dem er die europaskeptischen Wähler von der Abwanderung zu den Tories oder der Brexit-Partei abhalten will. Labours Auftrag sei es, anschließend das umzusetzen, wofür die Leute sich entschieden. Übersetzt heißt das: Zunächst muss Labour überhaupt die Regierungsgeschäfte übernehmen, dann einen neuen Deal vereinbaren – und mit diesem in ein zweites Referendum gehen. Es sei wichtig, den Menschen ein Angebot zu machen, betonte Corbyn. „Verbleib in der EU, vielleicht mit ein paar Reformen, oder Austritt zu diesen Konditionen."
Der Haken für die Pro-Europäer: Ob der Oppositionschef für den selbst ausgehandelten Deal oder für einen Verbleib werben würde, lässt Corbyn offen. Auch die Briten zeigen sich bislang unbeeindruckt, wie Umfragen andeuten. Die wiederum ignoriert der Star des linken Flügels hartnäckig. Vielmehr rechne er mit einem Sieg von Labour. Viele Sozialdemokraten der Basis präsentieren sich weniger zuversichtlich. „Es herrscht Frustration“, fasst Denis MacShane die Stimmung beim Treffen der Sozialdemokraten zusammen. MacShane war Labour-Abgeordneter zu einer Zeit, die heute wie eine Ewigkeit her scheint. Als Staatssekretär für Europa saß er von 2002 bis 2005 im Kabinett von Ex-Premier Tony Blair, der von den linken Corbyn-Anhängern beinahe ebenso abgelehnt wird wie die verhassten Tories.
Man müsse die Taktik ändern, so MacShane. Er blickt in Richtung des Piers, gegenüber vom Tagungsort in Brighton. Am Strand demonstrieren rund 100 Aktivisten für den Verbleib in der Staatengemeinschaft, schwenken EU-Flaggen und verurteilen auf Plakaten „die Lügen“ der Konservativen. „Corbyn und sein Team denken, dass die Leute kein Interesse am Brexit haben, sondern über Dinge wie Armut, Sozialwohnungen und Sparpolitik reden wollen.“ Der moderate Flügel bei Labour hält das für eine Fehleinschätzung. „Labour muss interessanter und weniger defensiv beim Thema Brexit werden“, sagt MacShane, selbst überzeugter Gegner des EU-Austritts. Gleichzeitig beklagen die Mitglieder die Grabenkämpfe an der Führungsspitze. Am Wochenende sorgte ein – später zurückgezogener – Antrag von Vertretern des linken Flügels für Aufregung, mit dem die sogenannten Corbynistas den Posten des Parteivize abschaffen wollten.
Diesen besetzt Tom Watson, seines Zeichens ein Gemäßigter sowie lautstarker Kritiker von Corbyns Brexit-Schlingerkurs. Das Ziel der Einigkeit sei bereits zum Start des Parteitags untergraben worden, monierte Watson. Er dürfte weniger zufrieden auf die vergangenen Tage blicken. Die Streitereien ziehen sich durch alle Veranstaltungen und Debatten. Am Mittwoch, zum Abschluss des Treffens, hält Corbyn seine große Rede, die Erwartungen könnten größer kaum sein. „Die Menschen sehnen sich nach Führung und einer klaren Position“, sagt die Abgeordnete Louise Haigh, die die Forderung nach einem zweiten Referendum unterstützt und dann für den Verbleib Großbritanniens werben würde. „Wir haben als Labour eine Pflicht und Verantwortung bei der größten politischen Herausforderung unserer Zeit.“