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Kurz vor dem Ziel
Ein politisches Talent: Der 30-jährige Sebastian Kurz will Österreichs Bundeskanzler werden und geht dabei hochgradig strategisch vor. Am Samstag will er sich erst einmal zum ÖVP-Vorsitzenden wählen lassen.
Mariele Schulze-Berndt
 |  aktualisiert: 05.07.2017 03:49 Uhr

Junge Chefs – mit 30 schon ganz oben“, hat kürzlich das Wirtschaftsmagazin „Trend“ getitelt. Keine Frage, wer die Blattmacher dazu inspiriert hat. Sollte Österreich im Herbst tatsächlich einen Bundeskanzler bekommen, der dann gerade einmal 31 Jahre alt sein wird, spätestens dann lohnt sich die Frage: Wie erfahren sind die um die 30 heute eigentlich? Erwachsener als frühere Generationen, oder – im Gegenteil – noch ziemlich jugendlich, gedanklich oder gar de facto noch im „Hotel Mama“ zuhause? Viele Menschen stellen sich solche Fragen, seit in Europa mehrere junge Politiker in hohen Führungspositionen für Gesprächsstoff sorgen. Emmanuel Macron (39) etwa, Frankreichs neuer Präsident. Christian Lindner (38) hat die FDP aus dem Tal der Tränen geführt. Und Matteo Renzi war auch erst 39, als er 2014 Regierungschef in Italien wurde.

Österreichs Außenminister Sebastian Kurz ist noch zwei Monate lang 30 Jahre alt und doch schon seit Jahren dabei, die Österreichische Volkspartei umzukrempeln. Am Samstag will er sich in Linz zu ihrem Vorsitzenden wählen lassen. Als ein Mann irgendwo zwischen Messias und Popstar hat es der jüngste Außenminister der Welt geschafft, den letzten ÖVP-Chef Reinhold Mitterlehner zu beerben und konservativer Spitzenkandidat zu werden. Nach der Nominierung sind seine Beliebtheitswerte in der Bevölkerung noch einmal gestiegen. Eine aktuelle Umfrage sieht auch seine Partei im Aufwind, bei 33 Prozent – sieben Prozentpunkte vor den Sozialdemokraten der SPÖ und neun vor der rechtspopulistischen FPÖ. Im Klartext: Dieser Mann könnte nach der Nationalratswahl am 15. Oktober tatsächlich Bundeskanzler werden.

Wer ist dieser Sebastian Kurz, was will er, wo kommt er her? Geografisch betrachtet ist die Antwort nicht schwierig. In Wien-Meidling leben seine Eltern in einem Mehrfamilienhaus. Dort ist Kurz aufgewachsen, dort hat er im selben Haus eine kleine Wohnung bezogen, in der er bis vor einem Monat lebte. Jetzt ist er „eine Gasse weiter gezogen“. Die früheren 65 Quadratmeter bei einem Gehalt von 18 000 Euro im Monat hatten so manchen Beobachter verwundert.

Seine Mutter ist Gymnasiallehrerin, sein Vater war Ingenieur in einem internationalen Unternehmen. Freundin Susanne arbeitet im Finanzministerium. Kurz? Wohnung liegt verkehrsgünstig zwischen zwei U-Bahn-Stationen, es gibt ein paar Bäume in der Straße, der berühmte Schlosspark von Schönbrunn ist nicht weit. Das Ortsbild ist geprägt von dem üblichen Gemisch an Multikulti-Vorstadtgeschäften, Handyshops und netten Restaurants.

Als Kind fuhr Sebastian Kurz häufig zu den Großeltern auf einen Bauernhof im Waldviertel, wo sich heute viele Wiener Freizeitwohnungen eingerichtet haben. Dort in Niederösterreich ist er auch politisch bestens vernetzt. Gute Bekannte erzählen, seine Mutter sei anfangs nicht sehr begeistert über seine Karriere gewesen. Kurz selbst sagt: „Meine Eltern sind richtig cool und unaufgeregt. Sie unterstützen mich sehr.“ Vieles von dem, was ihm heute Türen öffnet, dürfte das Einzelkind den Eltern verdanken. „Er grüßt immer“, erzählt eine Nachbarin. Auf der Internetseite seiner früheren Schule in der Erlgasse in Meidling wird begeistert davon erzählt, dass er eine Schulklasse, die ihn zufällig bei einem Ausflug vor dem Außenministerium traf, sofort einlud und herumführte.

Der Lehrer, der mit der Klasse unterwegs war, heißt Edwin Fichtinger und hat Kurz einst in Geografie und Wirtschaftskunde unterrichtet.

In einem schönen Garten bei Schloß Hetzendorf erzählt der 62-Jährige von seinem ehemaligen Schüler. „Sebastians Elternhaus und die Kirche haben ihn politisch geprägt“, sagt er. „Seine Eltern sind in der Gemeinde sehr aktiv.“ Als Schüler sei er lange nicht aufgefallen. Erst als die Gymnasiasten im Wahlfach Wirtschaftskunde eine Firma gegründet haben. Unter dem Namen „Kids and the City“ betreuten sie gegen Honorar Grundschulkinder. Kurz war war ihr Geschäftsführer und Marketingleiter. „Er hat gezeigt, dass er sehr gut motivieren und delegieren kann. Und er erwies sich als absolutes Arbeitstier,“ sagt Fichtinger. „Wenn er etwas wollte, zog er es durch und ließ nicht locker.“

Ganz offensichtlich freut es ihn, einen „grünen Aktivisten“ der ersten Stunde, dass sein früherer Schüler Karriere macht. Ein Spezialgebiet des künftigen ÖVP-Chefs im Abitur, der Matura, seien Parteien in der Monarchie gewesen. Er habe damals in kurzer Zeit große rhetorische Fortschritte gemacht, „ich habe gedacht, er geht einmal in die Wirtschaft“.

Von wegen. Die Matura bestand er mit Auszeichnung. Danach jobbte er bei einer Versicherung, bei der österreichischen Botschaft in Washington, und begann ein Jurastudium, das er kurz vor dem Abschluss abbrach. Er wurde Chef der Wiener Jungen Volkspartei, machte einen Party-Wahlkampf mit dem „Geilomobil“, einem schwarzen SUV der Marke Hummer, stieg 2009 zum Bundesvorsitzenden auf. „Leider erfolglos“, sagt er heute. Dann: mit 24 Wiener Landtag, mit 25 Staatssekretär für den Bereich Integration, mit 27 im Nationalrat – und Außenminister.

Viele Ur-Meidlinger klagen heute über die hohe Ausländerquote im Ort. Kurz? Klasse war die erste an seinem Gymnasium, in der die Hälfte der Schüler Migrationshintergrund hatte. Während des Balkankriegs nahmen Mama und Papa Kurz zu Hause Flüchtlinge auf. Sebastian Kurz reichte das nicht. Er suchte in der Politik nach Lösungen. Heute vertritt er in der Flüchtlingspolitik eher eine harte Linie.

Es ist jedes Mal ein Lacherfolg, wenn er auf Veranstaltungen erzählt, wie er als 16-Jähriger in die ÖVP eintreten wollte. Das geht dann so: „Als ich die Junge Volkspartei in Meidling angerufen habe, sagte mir jemand, ich sei zu jung. Das macht nichts, habe ich gesagt, mein Problem wird mit jedem Tag kleiner. Sie seien auch sehr wenige, hieß es dann. Macht nichts, habe ich geantwortet, ich bringe meine Freunde mit. Aber sie treffen sich eigentlich nie, weil es sich nicht auszahlt, hieß es. Dann habe ich es sein lassen und mich wieder auf Schule, Partys und Tennis konzentriert.“

Gerade viele junge Zuhörer sind begeistert von dieser Geschichte und brennen darauf, persönlich mit ihm in Kontakt zu kommen, ein Selfie mit ihm zu machen. Kurz weiß, wie wichtig das ist. Er macht mit, beugt sich freundlich zu kleineren Gesprächspartnern hinunter, Älteren lässt er gerne den Vortritt.

Natürlich war es dann ein Paukenschlag, als er sich mit 27 in die Riege der erfahrenen EU-Außenminister mit den grauen Schläfen einreihte. Kann der das, fragte man sich? Kurz trat selbstbewusst auf, auch mal vollmundig. Wie immer ist die österreichische Gesellschaft gespalten, wenn jemand auffällt und aus der Reihe tanzt. Auch wenn er noch so gute Manieren hat.

Und doch hat er sich Respekt verschafft. Kurz ist ein Charismatiker, ein strategisches Talent. Das hat der frühere ÖVP-Chef und Außenminister Spindelegger früh erkannt, als er Kurz zum Staatssekretär machte. Als Spindelegger im Mai nach parteiinternem Druck zurücktrat und damit auch die Regierung am Ende war, war Kurz der einzige, der die ÖVP vor dem Absturz bewahren konnte. Er hatte längst seine Truppen um sich gescharrt. So, wie er gezielt seine Getreuen aus der Jugend-ÖVP in seinem Ministerium und in den Kabinetten anderer ÖVP-Minister untergebracht hat.

Kurz gilt als nachtragend, Fehler verzeihe er nicht, heißt es. Dass er ständig aufs Handy schaut, wischt und wieder schaut, ist nicht nur Ausdruck seiner Generation, den „digital natives“. Er steht auch ununterbrochen in Kontakt mit seinen Freunden und Förderern. Ältere konservative Politiker wie Alt-Bundeskanzler Wolfgang Schüssel und Ex-EU-Kommissar Franz Fischler schätzen an Kurz, dass er ihren Rat einholt. „Ich treffe ihn von Zeit zu Zeit und er hört mir zu“, sagt Fischler. „Das ist ja eine seiner Stärken.“

Und wofür steht der Senkrechtstarter nun politisch? Weil dies gut drei Monate vor dem vorgezogenen Wahltermin noch immer nicht ganz klar ist, wächst das Grummeln auch gegenüber seiner Person. Im September erst will Kurz sein Wahlprogramm vorstellen und bis Mitte Oktober einen kurzen und vor allem günstigen Wahlkampf führen. Er sei „ein Freund der Klarheit“, heißt es jedenfalls auf seiner Facebook-Seite, die fast 550 000 Menschen gefällt. Nur FPÖ-Chef Strache hat als Politiker mehr Follower – also „Anhänger“ im Internet. Davon sind allerdings 200 000 aus Deutschland.

Weil er nicht vor scharfen Formulierungen zurückschreckt, hat Kurz schon gewaltigen Staub aufgewirbelt. Als er etwa vom „NGO-Wahnsinn“ sprach – eine heftige Kritik an Nichtregierungsorganisationen – oder sich die Schließung der Balkanroute als persönlichen Verdienst anheftete. Nun fordert er beispielsweise, auch das Mittelmeer für Flüchtlinge unpassierbar zu machen. Die FPÖ mit ihren rechtspopulistischen Positionen hat er so in die Defensive gebracht. Früher konnte diese ihren Kandidaten Heinz-Christian Strache als Herausforderer des Kanzlers positionieren. Dies gelingt jetzt nicht mehr. Was an Sebastian Kurz liegt.

Das Duell, glauben 46 Prozent der Österreicher in einer Umfrage, werde sich zwischen ihm und Bundeskanzler Christian Kern entscheiden. Noch ist das Rennen offen. Auch, wie dann eine Koalition aussehen könnte. ÖVP und FPÖ ist denkbar. Nun hat aber auch die SPÖ mit dem Dogma gebrochen, niemals mit der FPÖ paktieren zu wollen.

In Berlin sagt man, gebe es bisher keine großen Schwierigkeiten mit Kurz. Allerdings bleibt unvergessen (im Merkel-Lager sagt man auch: unverziehen), wie er im Frühjahr 2016 die Außenminister der Westbalkan-Länder nach Wien einlud, um die Schließung der Flüchtlingsroute voranzutreiben – ohne Griechenland und Deutschland einzubinden. Wenn er mal über die Stränge schlage und die Kanzlerin kritisiere, heißt es, rufe man Österreichs Botschafter an, auch ein Kurz-Getreuer. Der leite die Kritik nach Wien weiter. Als ÖVP-Chef – erst recht als Kanzler – hätte er einen direkten Draht zu Angela Merkel.

Das ist Österreich

Bevölkerung: 8,7 Millionen Einwohner (Deutschland: 82 Millionen), davon 1,7 Millionen in der Hauptstadt Wien. Fläche: 83 879 Quadratkilometer (Deutschland: 357 375). Regionen: Es gibt neun Bundesländer: Burgenland, Kärnten, Niederösterreich, Oberösterreich, Salzburg, Steiermark, Tirol, Vorarlberg, Wien. Religion: 5,21 Millionen Katholiken, 306 000 Protestanten, 600 000 Muslime, 500 000 orthodoxe Christen, 13 500 Juden. Staatsoberhaupt: Alexander Van der Bellen (ehemaliger Grünen-Parteichef), seit 26.

Januar 2017. Parlament: Zwei Kammern: Nationalrat mit 183 Mitgliedern (Wahl alle fünf Jahre), Bundesrat mit 61 Mitgliedern, die von den Landtagen im Verhältnis zur Einwohnerzahl des entsprechenden Bundeslandes entsandt werden. Koalition: Die Große Koalition zwischen Konservativen (ÖVP) und Sozialdemokraten (SPÖ) ist die mit Abstand häufigste Konstellation in der österreichischen Politik. Seit Ende des Zweiten Weltkrieges gab es nur in den Jahren zwischen 1966 und 1987 sowie zwischen 2000 und 2007 keine Große Koalition. Das derzeitige Bündnis der beiden Parteien wird von der SPÖ angeführt.

Bundeskanzler ist seit 17. Mai 2016 Christian Kern, Außenminister ÖVP-Mann Sebastian Kurz.

Größte Oppositionspartei ist die rechtspopulistische FPÖ, die bei der letzten Wahl 21,4 Prozent der Stimmen holte. Bruttoinlandsprodukt: Pro Kopf in US-Dollar (2016) 45 000 (Deutschland: 41 900). Arbeitslosenquote: Nach EU-Standard 2016 6,0 Prozent (Deutschland: 4,1) Handel: Österreich gehört neben den USA und China zu den wichtigsten Handelspartnern Bayerns. AZ/ANF Quellen: Auswärtiges Amt, Archiv

 
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