Ein Jahr später wundert sich niemand mehr. Jedenfalls nicht zu Hause. Die Österreicher haben sich schneller daran gewöhnt, von einem 32-Jährigen regiert zu werden, als die europäischen Nachbarn, die immer noch gerne die Geschichte vom „Wunderwuzzi“ aus Wien erzählen. Was die Popularitätswerte angeht, kann es keiner mit Bundeskanzler Sebastian Kurz aufnehmen. Doch zugleich gehen Zehntausende auf die Straße, um gegen seine Koalition mit den Rechtspopulisten von der FPÖ zu demonstrieren. Ein Widerspruch? Die Politikwissenschaftlerin Kathrin Stainer-Hämmerle erklärt ihn so: „Dieser Mann lässt niemanden kalt, die Bevölkerung teilt sich in glühende Fans und heftigere Gegner, als sie je ein Kanzler hatte.“
Der jüngste Regierungschef Europas ist ein geschickter Selbstvermarkter auf allen Kanälen – und ein Meister darin, wenig Angriffsfläche zu bieten. Kritik lässt er an sich abperlen und sein Talent, kniffligen Fragen wortreich aus dem Weg zu gehen, ohne auch nur den Versuch einer Antwort zu unternehmen, ist zum Running Gag in den sozialen Netzwerken geworden. Unter dem Titel „Answer Like Kurz“ (Antworte wie Kurz) machen sich die Österreicher einen Spaß daraus, mit vielen Worten möglichst wenig zu sagen.
Der Kanzler wird den Spott gelassen ertragen. Denn er fährt gut mit seiner Strategie. Die Empörung darüber, dass der den politischen „Schmuddelkindern“ von Rechtsaußen zur Macht verholfen hat, lässt nach. Und wenn die FPÖ doch mal wieder durch rassistische Ausfälle oder ihren Dauerkrieg mit den Medien auffällt, wird das möglichst lautlos wegmoderiert. „Er könnte schon deutlicher und konkreter Stellung zu den Eskapaden am rechten Rand beziehen“, findet Stainer-Hämmerle – doch bei den Wählern kostet Kurz das Ungefähre offenbar kaum Sympathien.
Es mag paradox klingen, aber das vielleicht größte Erfolgsgeheimnis dieser Koalition ist, dass die FPÖ die Erwartungen nicht erfüllt. Schon einmal hatte die konservative ÖVP mit den Freiheitlichen gemeinsame Sache gemacht. Doch das hoch umstrittene Bündnis zur Jahrtausendwende wurde zu einer einzigen Schlammschlacht. Aus dem Hintergrund torpedierte Jörg Haider – bis heute die Ikone der österreichischen Rechten – die Regierung mit ständigen Sticheleien und mancher hatte eine Wiederholung erwartet, als FPÖ-Chef Heinz-Christian Strache und Kurz vor einem Jahr ihren Koalitionsvertrag unterschrieben. Doch nun scheint die Zweckgemeinschaft einigermaßen stabil zu funktionieren. „Die Österreicher sind es gewöhnt, dass Regierungspartner ständig übereinander herziehen. Dass Kurz und Strache dem bislang widerstehen, hat viele positiv überrascht“, sagt der Journalist Paul Ronzheimer. Er hat Kurz wochenlang aus nächster Nähe erlebt und eine Biografie über das Wiener Wunderkind geschrieben. Heute ist sein Eindruck, dass das dünne Eis, auf dem sich die Koalition bewegt, im ersten Jahr tragfähiger geworden ist. Nach außen hin bemühen sich ÖVP und FPÖ jedenfalls um ein betont harmonisches Bild. „Heinz-Christian Strache ist nicht Jörg Haider – er kommt besser klar mit seiner Rolle in der zweiten Reihe“, sagt Stainer-Hämmerle über den Nichtangriffspakt der beiden Anführer. Und der funktioniert so: Die FPÖ ist loyal und der Kanzler revanchiert sich, indem er bei rechtsextremistischen Ausfällen nicht so genau hinschaut – solange sich die Mitglieder seiner Regierung keine leisten.
Wie groß der Einfluss der FPÖ sein kann, zeigte sich erst kürzlich: Als eines der ganz wenigen EU-Länder verweigerte Österreich die Unterschrift unter den UN-Migrationspakt. Und auch die Nähe der Regierung in Wien zu Russland und Wladimir Putin bekommt vor allem im rechten Lager Applaus. Als der Kreml-Chef im Sommer als Stargast bei der Hochzeit der österreichischen Außenministerin Karin Kneissl auftauchte und die Braut den Russen mit einem tiefen Knicks begrüßte, war die Aufregung in Europa groß. In Österreich hielt sie sich eher in Grenzen. Dort wundert sich eben niemand mehr.