Mit ihren Sweatshirts, Mützen und Laufschuhen fällt die dutzendköpfige Gruppe kaum auf, die jeden Mittwochmorgen vor Sonnenaufgang eine halbe Stunde durch den Central Park im Herzen Manhattans joggt. Allenfalls die T-Shirts einiger Teilnehmer deuten subtil die Identität der prominenten Hobbysportler an, die sich die „PRunners“ nennen. Das „P“ steht für „Permanent Representative“ – die offizielle Amtsbezeichnung der Botschafter bei den Vereinten Nationen (UN).
Auch der deutsche UN-Botschafter Christoph Heusgen ist wie seine Kollegen aus Finnland, Kanada, Neuseeland oder dem Libanon regelmäßig am Start. Immerhin hat der hochgewachsene 63-Jährige im vorigen Jahr den New Yorker Marathon bewältigt. Extreme Ausdauer und exzellente informelle Kontakte zu anderen Diplomaten wird der Vertraute von Kanzlerin Angela Merkel brauchen, wenn die Bundesrepublik nun in den Olymp der UN aufrückt. Zwei Jahre lang gehört Deutschland dann dem Sicherheitsrat an, dessen 15 Mitgliedsländer weltweit den Frieden sichern und das Recht erzwingen sollen – eine Herkulesaufgabe. „Deutschland alleine kann die Dinge nicht verändern“, weiß Heusgen: „Deswegen arbeiten wir eng mit den Partnern zusammen.“
Die Erwartungen sind groß
Für Deutschland wird das eine Bewährungsprobe. Seit Jahren wird darüber diskutiert, wie viel Verantwortung das bevölkerungsreichste und wirtschaftsstärkste Land Europas in der internationalen Politik übernehmen kann, will, muss. Mehr, meinen viele, auch Außenminister Heiko Maas. „Die Erwartungen an uns sind so groß wie wohl noch nie“, sagt der SPD-Politiker.
Die noch unter den ehemaligen Außenministern Frank-Walter Steinmeier und Sigmar Gabriel angestoßene Bewerbung um einen nicht-ständigen Sitz im höchsten UN-Gremium war das zentrale Projekt Heusgens, seit der ehemalige außenpolitische Einflüsterer von Merkel 2017 den Botschafterposten am New Yorker East River übernommen hat. Nun ist das Ziel erreicht: Am 2. Januar wird Heusgen um neun Uhr morgens erstmals an dem hufeisenförmigen Tisch im sogenannten Beratungsraum der Vereinten Nationen Platz nehmen. Doch mit Kriegen und Langzeitkonflikten rund um die Welt und einem unberechenbaren Präsidenten im Weißen Haus ist die Lage komplizierter denn je.
Ungleiches Kräfteverhältnis
Vom Gemetzel im Jemen über den Bürgerkrieg in Syrien und die Spannungen im Nahen Osten bis zur drohenden atomaren Bewaffnung des Iran reicht die Liste der aktuellen Konfliktthemen. Gerade hat US-Präsident Trump ohne Abstimmung mit den Verbündeten den Rückzug der amerikanischen Truppen aus Syrien verkündet und damit die dortigen Kurden in große Gefahr gebracht. Ebenso einseitig hat er das Iran-Abkommen aufgekündigt und macht mächtigen Druck auf die Europäer, ihm zu folgen. Dem nordkoreanischen Diktator Kim Jong-Un hat Trump einen fernsehwirksamen Besuch abgestattet, doch gibt es bislang keine Anzeichen dafür, dass das Land sein Nukleararsenal wirklich vernichtet.
Die Diplomatie hat es schwer in diesen Zeiten, und das ungleiche Kräfteverhältnis im Sicherheitsrat erschwert Fortschritte zusätzlich. Die fünf ständigen Mitglieder USA, Russland, China, Frankreich und Großbritannien haben ein Vetorecht und blockieren sich oft gegenseitig. Heusgen hofft, die Kluft zwischen den mächtigen ständigen und den zehn nicht-ständigen Mitgliedern durch eine regionale Zusammenarbeit aufbrechen zu können. Immerhin fünf Vertreter am Tisch kämen aus Europa, argumentiert er: „Wir Europäer wollen im Sicherheitsrat mit einer Stimme sprechen.“ Berlin kämpft auch weiter für eine institutionelle Reform des Gremiums. Doch halten Beobachter die Erfolgschancen für sehr gering.
Mit Initiativen zur Rüstungskontrolle, zum Klimawandel, zum Schutz humanitärer Helfer und zur Rolle von Frauen bei der Konfliktbewältigung will Deutschland, das dem Sicherheitsrat zuletzt 2011/12 angehört hatte, politische Akzente setzen. Die Deutschen verfolgen aber vor allem ein übergeordnetes Ziel: Sie wollen mit gleichgesinnten Ländern dazu beitragen, die Krise des Multilateralismus zu überwinden. Der Multilateralismus, die Zusammenarbeit vieler Staaten, um den großen grenzüberschreitenden Bedrohungen und Problemen Herr zu werden, ist nichts anderes als ein Grundprinzip der Vereinten Nationen, die 1945 nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden. Bei einer Rede in der Vollversammlung der UN gab Maas sein Motto aus: „Together first“. Damit fordert der Deutsche offen die USA unter Präsident Donald Trump heraus, der sein nationalistisches „America first“ der Welt entgegenschleudert. Doch schon die UN-Gründer selbst setzten dem Multilateralismus seine Grenzen: Das Vetorecht für die fünf ständigen Mitglieder des Sicherheitsrates schafft eine globale Zweiklassengesellschaft. Die USA, Russland, China, Frankreich und Großbritannien können jede multilaterale Initiative in dem Gremium ersticken.
Der Preis für das Vetorecht
Das Vetorecht schützt die Privilegierten vor Eingriffen in ihre Souveränität und ihren machtpolitischen Gestaltungswillen. Das Vetorecht dient auch einem anderen Zweck. Es soll sicherstellen, dass keine der Vetomächte in einem Streit mit einer anderen Vetomacht die UN vor ihren Karren spannt und dadurch womöglich eine militärische Konfrontation heraufbeschwört. Das Vetorecht trägt dazu bei, einen apokalyptischen Krieg der Vetomächte, die gleichzeitig Atommächte sind, zu verhindern. Der Preis, den die Welt dafür bezahlt, ist die Untätigkeit des Sicherheitsrates bei den vielen Konflikten, in denen die Großmächte unterschiedliche Interessen verfolgen. So sorgen die Russen dafür, dass ihnen der UN-Rat bei ihrem blutigen Abenteuer in der Ost-Ukraine nicht in die Quere kommt. Die US-Amerikaner nutzen den Rat, wenn kein Widerspruch zu befürchten ist.
Das Paradebeispiel ist die Befreiung Kuwaits 1991. Bei Gegenwind ignorieren die Entscheider in Washington jedoch das UN-Gremium. So geschehen bei der völkerrechtswidrigen US-Invasion des Irak 2003. Zu jener Zeit saß Deutschland als nicht-ständiges Mitglied im Sicherheitsrat – und lehnte den Angriff der „Koalition der Willigen“ auf das arabische Land entschieden ab.
Noch unklar ist, ob Heusgen den Präsidentenstuhl im April einmal seiner früheren Chefin Angela Merkel überlassen kann. Obwohl die Kanzlerin vehement für die Akzeptanz multilateraler Organisationen und eine regelbasierte Ordnung statt nationaler Alleingänge a la Trump wirbt, hat sie sich in New York zuletzt rargemacht. Bei den UN-Generaldebatten im Herbst 2017 und 2018 glänzte sie durch Abwesenheit, was bei amerikanischen Medien verwundert registriert wurde.