Im Rückspiegel sah Dennis Bosen sie kommen. Mit einem Teppichmesser schlitzte einer der Männer die Plane des Lastwagens auf und zwei Flüchtlinge huschten ins Innere des Anhängers. Bosen blieb ruhig im Fahrerhäuschen sitzen, während in seinem Lkw verzweifelte Menschen kauerten, die sich durch seine unfreiwillige Hilfe ein neues Leben erträumten. „Aber ich steige in so einer Situation nicht aus, ich begebe mich doch nicht in Lebensgefahr“, sagt Bosen. „Ich habe schon Verständnis für diese Leute, aber wir haben Angst.“
Wenige Meter weiter, kurz vor der Einfahrt in den Eurotunnel, war die Hoffnung der Flüchtenden schon erloschen. Spürhunde schlugen bei der Kontrolle in der französischen Hafenstadt Calais an, bellten lauter als sonst. Die Männer wurden inmitten von Briefen und Paketen, die Bosen von Köln nach London kutschiert, entdeckt und festgenommen. Wären sie auf britischer Seite gefunden worden, hätte Bosen umgerechnet 3000 Euro pro Flüchtling als Strafe bezahlen müssen – weil er per Gesetz als Schleuser von illegalen Einwanderern gegolten hätte. Die Franzosen ließen ihn ohne Gebühr weiterfahren.
Militäreinsatz gefordert
Seit Wochen sorgt die Krise am Ärmelkanal für chaotische Verhältnisse auf beiden Seiten des Eurotunnels. In Calais harren Tausende von Flüchtlingen in slumartigen Unterkünften aus und versuchen Nacht für Nacht, als blinde Passagiere in Lastwagen oder Zügen nach Großbritannien zu gelangen. Sie verstecken sich in den Anhängern, springen auf Züge, klettern mit Leitern auf Lkw-Dächer oder kriechen auf die Achse der Gefährte. Mehrere Menschen kamen dabei bereits ums Leben. Und mitten im humanitären Drama finden sich die Lkw-Fahrer wieder. Der britische Transport-Verband Road Haulage Association (RHA) hat in einer Petition sogar bereits einen Militäreinsatz gefordert, um „Recht und Gesetz“ in Calais wiederherzustellen. Die Kosten für das Transportgewerbe seien massiv, klagte RHA-Chef Richard Burnett. Denn zurzeit stehen die Fahrer vor allem im Stau. Sobald ein Flüchtling auf den Gleisen in Frankreich gesichtet wird, stoppt die Polizei die Kolonne für zwei bis drei Stunden. Dabei wimmelt es in den Büschen von Menschen, die jede Chance auf eine Mitfahrgelegenheit nutzen.
Auch auf britischer Seite waren die Straßen zuletzt verstopft, weil die englischen Sicherheitskräfte den Tunnel immer wieder sperren, um einen Verkehrskollaps zu verhindern. Einmal brauchte Dennis Bosen für 35 Kilometer zwölf Stunden. 3300 Lkw standen auf den drei Spuren in Richtung Eurotunnel. Noch immer zeugen mobile Klohäuschen auf dem Standstreifen von dem Chaos, Plastiktüten und Müll haben sich in den orange-weißen Verkehrshütchen verfangen, die wie in Alarmbereitschaft am Straßenrand warten.
Drohung aus Downing Street
Aus Westminster hallt es, das Vorgehen gegen illegale Grenzübertritte habe „oberste Priorität“. London setzt vor allem auf Abschreckung. So will die konservative Regierung unter Premierminister David Cameron durch demonstrative Härte die Flüchtlingskrise lösen. Anfang der Woche ging die Drohung aus Downing Street an alle Haus- und Wohnungseigentümer im Königreich. Wer den Aufenthaltsstatus der potenziellen Mieter nicht ausreichend prüfe und an illegale Einwanderer vermiete, soll künftig mit bis zu fünf Jahren Gefängnis bestraft werden können. Zudem, so der Plan, dürfen Besitzer Mieter ohne Aufenthaltsgenehmigung künftig ohne richterlichen Beschluss vor die Tür setzen. Die verschärften Regelungen sollen in einen Gesetzentwurf zur Immigration aufgenommen werden.
Bereits vergangene Woche hatte London zusätzliche zehn Millionen Euro für verstärkte Maßnahmen auf französischer Seite zugesagt. Cameron warnte die Flüchtlinge und versprach den Briten: „Wir werden mehr Zäune, mehr Mittel, mehr Spürhunde-Staffeln schicken.“
Eine deutsche Camperin, die an einer Raststätte hastig ihre Zigarette raucht, zeigt sich froh, dass sie die Insel staufrei erreicht hat. Aber die Berlinerin findet es „schon berührend, wenn man dem Ganzen so nahe kommt“. Sie nimmt einen letzten Zug. „Wir sind ja nicht im Krieg.“ Von einem Kreuzfahrtschiff wehen Bassklänge an den Strand von Dover herüber. Am Horizont taucht Calais auf. „Es ist ruhiger als sonst zu dieser Zeit“, sagt eine Mitarbeiterin der Touristeninformation. Erst der Streik der Lkw-Fahrer, nun die Flüchtlingskrise. „Die Menschen meiden Dover wie die Pest.“ Flüchtlinge am Straßenrand? Das wollten Besucher nicht sehen. „Schlimme Sache“, sagt sie und schüttelt den Kopf. „Schlimme Sache.“ Sie meint für die Urlauber.