Mauschelt jede zweite Krankenkasse bei den Angaben ihrer Versicherten, um mehr Geld aus dem Gesundheitsfonds zu bekommen? Erschleicht die Hälfte der gesetzlichen Krankenkassen in Deutschland Gelder, die ihnen gar nicht zustehen? Machen Kassen ihre Patienten kränker als sie tatsächlich sind?
Die Schlagzeilen über den Manipulationsverdacht bei Krankenkassen verbreiteten sich gestern bundesweit so schnell, dass Tobias Schmidt, Pressesprecher vom Bundesversicherungsamt (BVA) – und damit eigentliche Quelle der Nachricht – auf Anfrage dieser Zeitung aus dem Staunen nicht herauskam.
Jede zweite Krankenkasse, so interpretierte die viel zitierte „Rheinische Post“ aus dem Prüfbericht, würde ihre Versicherten kränker machen als sie sind, um mehr Geld aus dem Gesundheitsfonds zu bekommen. Vor allem eine 280 Prozent höhere Herzinfarkt-Rate bei einer Versicherung und 30 Prozent mehr Hauterkrankungen als üblich bei einer anderen Kasse stoßen auf Misstrauen.
Nachvollziehbar findet das Pressesprecher Schmidt zwar, aber Spekulationen seien eben noch kein Grund für eine pauschale Vorverurteilung. „Bei den Auffälligkeitsprüfungen geht es um die Feststellung statistischer Auffälligkeiten. Konkreter Manipulationsverdacht besteht von unserer Seite aus deshalb nicht.“ Meistens seien Auffälligkeiten auf Veränderungen der Versicherungsstrukturen zurückzuführen oder auf vorgenommene Korrekturen.
„Auch eine spektakuläre Zahl wie 280 Prozent mehr Herzinfarkte relativiert sich, wenn man weiß, dass es sich um eine ganz kleine Versicherung handelt, bei denen die Zahl von fünf auf 19 angestiegen ist und damit durchaus erklärbar wird“, sagt Tobias Schmidt. Die Prüfungen seien ein völlig unspektakulärer Vorgang und so gestaltet, dass sie sensibel auf Veränderungen reagieren. „Deshalb können durchaus bis zu 30 Krankenkassen je Prüfung auffällig werden – das heißt aber nicht, wie jetzt überall fälschlicherweise gemeldet, dass gegen jede zweite Kasse Manipulationsverdacht besteht.“ Die Gesamtzahl der Auffälligkeiten sei gegenüber dem letzten Prüfzyklus rückgängig.
Aus etlichen Auffälligkeitsprüfungen im Jahr 2008 seien drei Manipulationen festgestellt worden. Gelingt es einer von einer Auffälligkeit betroffenen Versicherung nicht, eine plausible Erklärung zu finden, droht eine Geldstrafe. Die richtet sich laut Schmidt nach dem Umfang der Manipulation. Wie sich die Auffälligkeiten bei den Krankenkassen nun erklären lassen und ob ein Manipulationsverdacht vorliegt, werden die Prüfer erst im Lauf der nächsten drei bis vier Wochen feststellen. „Deshalb wundern uns die Schlagzeilen und der Medienwirbel zum jetzigen Zeitpunkt schon sehr“, sagt Tobias Schmidt.
Das Bundesversicherungsamt ist verpflichtet, Datenmeldungen der Krankenkassen für den Risikostrukturausgleich auf Zulässigkeit der gemeldeten Diagnosen zu überprüfen. Auffälligkeiten werden vermerkt und anonymisiert an den Spitzenverband der Krankenkassen gesendet. Mit diesem hat die Behörde das Prüfkonzept 2009 neu entwickelt.
Damals wurde ein einheitlicher einkommensunabhängiger Beitragssatz für die gesetzlichen Krankenkassen eingeführt. Von den 15,5 Prozent trägt der Arbeitnehmer 8,2 Prozent, den Rest zahlt der Arbeitgeber. Die Krankenkassen leiten das Geld an das Bundesversicherungsamt und damit in den Gesundheitsfonds weiter. Der wird zusätzlich gefüttert vom Staat aus Steuergeldern.
Das Amt verteilt das Geld schließlich an die Kassen. Wer viele ältere und kranke Versicherte hat, bekommt mehr als jene mit überwiegend jungen und gesunden Menschen.
BVA und die Kassen
Das Bundesversicherungsamt (BVA) ist eine 1956 durch Gesetz errichtete selbstständige Bundesoberbehörde
im Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales. Seit dem 1. Januar 2009 verwaltet das Amt auch den Gesundheitsfonds und ist damit zuständig für den Finanzausgleich innerhalb der gesetzlichen Krankenversicherung. Im Rahmen dessen ist das BVA zuständig für die Gesetzmäßigkeits- und Wirtschaftlichkeitsprüfung der Krankenkassen und Pflegekassen. Das BVA prüft mindestens alle fünf Jahre die Geschäfts-, Rechnungs- und Betriebsführung der gesetzlichen Krankenkassen. Derzeit sind circa 90 Prüfer im Einsatz. Die Aufsichtstätigkeit wird im Dialog mit den Kassen vollzogen. Die Prüfungen haben beratenden Charakter und sind nicht in erster Linie auf die Aufdeckung einzelner Fehler gerichtet. Sie sollen vielmehr Schwachstellen aufzeigen und Orientierungs- und Entscheidungshilfen geben. Stellen die Prüfer allerdings Manipulationsversuche fest, drohen der jeweiligen Kasse Sanktionen in Höhe der erfolgten Manipulation. Text: Mel