Die einen bringen Geld, die anderen kosten Geld. Ist das der Grund dafür, dass die gesetzlichen Krankenkassen ihre jüngeren und gesunden Mitglieder mit attraktiven Bonusprogrammen und Wahlleistungen bevorzugen, dagegen die Alten, chronisch Kranken und Behinderten systematisch und dauerhaft benachteiligen?
An Indizien, dass diese im Vergleich zu jüngeren Patienten deutlich schlechtere Leistungen erhalten oder dass ihre Anträge häufiger abgelehnt werden, damit die Kassen ihre Bilanzen verschönern, herrscht kein Mangel. Und nun kommt von offizieller Seite die Bestätigung.
Kritik vom Bundesversicherungsamt
Die Vorwürfe des Bundesversicherungsamtes in Bonn, das die Rechtsaufsicht über die Träger der gesetzlichen Kranken-, Renten- und Unfallversicherung sowie der sozialen Pflegeversicherung innehat, wiegen schwer. In einem 166 Seiten umfassenden „Sonderbericht zum Wettbewerb in der gesetzlichen Krankenversicherung“ wird Barmer, DAK, AOK und Co. in aller Deutlichkeit attestiert, gegen das Solidaritätsprinzip zu verstoßen. Stattdessen würden sie „unlautere Wettbewerbsstrategien zur Gewinnung und Bindung gesunder Versicherter“ betreiben – auf Kosten derer, die die Hilfe am dringendsten benötigen.
Zwar habe sich die Einführung von mehr Wettbewerb zwischen den Kassen vor 25 Jahren „im Wesentlichen bewährt“, gleichwohl gebe es „Schattenseiten“, sagt der Präsident des Versicherungsamtes, Frank Plate. „Wenn sich Krankenkassen nur noch als Unternehmer begreifen und ihre Marktbehauptung in den Vordergrund ihrer Bemühungen stellen, haben sie ihren Auftrag in der Solidargemeinschaft vergessen.“
Versorgung nicht im Vordergrund
Es gehe nicht um den Erhalt einzelner Krankenkassen, „sondern um eine gute und effiziente Versorgung der Versicherten“. Die angebotenen Satzungsleistungen, Wahltarife, Bonusprogramme aber auch Selektivverträge „führen häufig nicht zu der vom Gesetzgeber gewollten Verbesserung der Versorgung“, kritisiert Plate. Stattdessen würden sie „vor allem dazu genutzt, neue Mitglieder zu gewinnen oder aktuelle Mitglieder zu halten ohne für sie einen echten Mehrwert zu schaffen“.
Konkret wirft die Aufsichtsbehörde den Kassen vor, „häufig aus Kulanz“ die Anträge von jüngeren Mitgliedern anzunehmen, die von Alten und Kranken aber deutlich häufiger abzulehnen. So beträgt die Ablehnungsquote für eine Reha nach einer Operation 19,4 Prozent, bei Hilfsmitteln wie beispielsweise Windeln bei Inkontinenz sogar 24,5 Prozent.
Im Gegensatz dazu zeigten sich die Kassen bei den Ausgaben für Werbung großzügiger. Gaben diese 2012 noch 136 Millionen Euro für Werbung aus, waren es 2016 bereits 172 Millionen – ein Anstieg von rund 26 Prozent. Die Aufsichtsbehörde kritisiert auch die Art der Werbung, die sich „massiv“ verändert habe. „Während früher Werbemaßnahmen einen aufklärenden Inhalt hatten, herrscht heute eine Strategie um das Festigen der Marke durch Fernsehspots, Plakatwerbung oder Sponsoring von sportlichen Events und Präsenz in Social Media.“
Hohe Prämien für junge Mitglieder
Ein Dorn im Auge des Versicherungsamtes sind die zum Teil sehr hohen Wechselprämien, um Mitglieder von anderen Kassen anzulocken. Einige Kassen würden in Kombination mit Wahltarifen bis zu 900 Euro an Prämien zahlen und diese im Einzelfall sogar als Sofortbonus im Voraus ausbezahlen, „obwohl dieser Bonus eigentlich nach den Satzungsregelungen der Krankenkassen erst nach erfolgreicher Teilnahme an Sportveranstaltungen, Früherkennungsmaßnahmen etc. ausgezahlt werden darf“.
Ausdrücklich monieren die Prüfer die Kooperation der Kassen mit Dritten, bei der den Versicherten Rabatte beim Einkauf in Apotheken oder Sportgeschäften gewährt werden. Besonders problematisch sei, wenn Kassen mit bis zu 2000 Kooperationspartnern Rabatte vereinbaren, von denen die meisten keinerlei Gesundheitsbezug hätten – ob nun Döner, Reifen oder Facelifting.
Kritik aus SPD und Union
Auch aus der Politik kommt inzwischen Kritik. Karl Lauterbach (SPD) plädiert dafür, den sogenannten Risikostrukturausgleich so zu ändern, dass bei der Verteilung der Beitragseinnahmen alle schweren und chronischen Krankheiten berücksichtigt werden. Außerdem müsste bei der Genehmigung von Bonusprogramme stärker darauf geachtet werden, dass sie auch Älteren und sozial Schwachen nutzten.
Noch deutlicher wird der Fraktionsvize der Union, Georg Nüßlein (CSU): „Die Fantasie und die Renitenz einiger Kassen, sich im Wettbewerb unfair und unverschämt Vorteile zu verschaffen, sind leider grenzenlos und verstoßen gegen das Solidarprinzip.“ Daher, so Nüßlein, müsse der Gesetzgeber auch über schärfere persönliche Sanktionen gegen die Vorstände der Kassen nachdenken.