Vier Tage nach dem schwersten Grubenunglück in der Geschichte der türkischen Republik hat die Regierung am Samstagabend die Bergungsarbeiten eingestellt. Unterdessen sorgt eine neue Videoaufnahme vom tumultuösen Besuch des Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdogan in der Bergarbeiterstadt Soma für Empörung. In Deutschland wächst derweil die Kritik an dem für Samstag geplanten Auftritt Erdogans in Köln.
Die Lage in der westtürkischen Bergarbeiterstadt Soma blieb angespannt. Der örtliche Gouverneur hat alle Kundgebungen und Demonstrationen verboten. Tags zuvor hatte es Massenproteste gegen die Regierung gegeben. Die drei Zufahrtsstraßen, die nach Soma führen, wurden von der Polizei gesperrt und die Ortschaft damit praktisch von der Außenwelt abgeriegelt. Eine Gruppe von Rechtsanwälten, die nach Soma kommen wollten, um Hinterbliebenen der Opfer Rechtsbeistand zu geben, wurde von der Polizei festgenommen und in Handschellen in ein Sportstadion gebracht. Erst auf Intervention eines Staatsanwalts seien die Anwälte später wieder freigelassen worden.
Unterdessen ist im Internet ein weiteres Video aufgetaucht, das Einzelheiten des umstrittenen Auftretens von Premier Erdogan am Tag nach dem Unglück in Soma zeigt. Erdogan hatte die Tragödie als „normal“ heruntergespielt, was Empörung und Wut unter den Hinterbliebenen der Opfer auslöste. Erdogan wurde in Soma mit Pfiffen und Buhrufen empfangen.
Das neue Video zeigt, wie der Premier auf einen jungen Mann zugeht und ihn mit erhobenem Zeigefinger anherrscht: „Sei nicht frech! Was passiert ist, ist passiert. Es ist gottgegeben. Wenn Du den Ministerpräsidenten ausbuhst, bekommst Du eine geknallt!“
Augenzeugenberichte rücken auch ein anderes Vorkommnis bei Erdogans Besuch in ein neues Licht. Zunächst hatte es geheißen, Erdogans Leibwächter hätten ihren Schützling vor der aufgebrachten Menge in einem Supermarkt in Sicherheit bringen müssen.
Jetzt gibt es Darstellungen, wonach Erdogan offenbar eine Gruppe von Demonstranten in das Geschäft verfolgte. In dem Laden soll Erdogan einen jungen Mann zu Boden geschlagen haben. Der Betroffene erklärte hernach, Erdogan habe ihm wohl „unabsichtlich“ einen Schlag versetzt.
Nach dem von Kritikern als provozierend empfundenen Besuch Erdogans in der Bergarbeiterstadt wächst in Deutschland die Kritik an einem für Samstag geplanten Auftritt des türkischen Premiers.
Erdogan will in der Kölner Lanxess-Arena vor Landsleuten sprechen. Offizieller Anlass ist das zehnjährige Bestehen der Union Europäisch-Türkischer Demokraten.
Der nordrhein-westfälische Integrationsminister Guntram Schneider (SPD) sagte der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung, Erdogans Besuch komme „einem Missbrauch des Gastrechts nahe“. Er forderte den türkischen Premier auf, die Veranstaltung abzusagen. Die Integrationsbeauftragte der Bundesregierung, Aydan Özoguz, bezeichnete die geplante Erdogan-Großveranstaltung als „misslich“.