Es soll ausdrücklich keine Krisensitzung sein. Vielmehr ein Routinetermin, auch wenn er außerhalb der Reihe stattfindet. Am Sonntag treffen sich am späten Nachmittag erst das Präsidium und dann der Bundesvorstand der CDU im Konrad-Adenauer-Haus, um eine Woche nach der Wahl in Bayern und eine Woche vor der Wahl in Hessen die Lage zu analysieren und die Schwerpunkte für den Endspurt im Hessen-Wahlkampf festzulegen.
Und doch werden die Beratungen den Charakter eines Krisentreffens haben. Denn in den neuesten Umfragen ist die CDU auf einen neuen historischen Tiefpunkt gefallen. Wäre am Sonntag Wahl, würde die Union nur noch 27 Prozent erhalten, so die Werte des ZDF-„Politbarometers“, das ist noch einmal ein Punkt weniger als vor einem Monat. Im „Deutschlandtrend“ der ARD sind es sogar nur 25 Prozent. Und in Hessen droht CDU-Ministerpräsident Volker Bouffier mit 26 Prozent der Verlust der Macht, rein rechnerisch könnte es für SPD, Grüne und Linkspartei im Wiesbadener Landtag reichen. Wie ernst die Lage ist, zeigt ein Blick in den Terminkalender Merkels. Gleich vier Mal wird sie in der nächsten Woche im hessischen Wahlkampf an der Seite ihres Stellvertreters Volker Bouffier auftreten, um für ihn zu werben.
Für die Union ist es auch kein Trost, dass es der SPD noch viel schlechter geht. „Politbarometer“ wie „Deutschlandtrend“ sehen die Sozialdemokraten bundesweit bei nur noch 14 Prozent, auch das ein historischer Tiefpunkt, womit die Große Koalition in Berlin keine Mehrheit mehr hätte. Im Gegenzug hält der Höhenflug der Grünen an. Sie liegen nicht nur in Bayern, sondern mittlerweile auch in Hessen sowie in ganz Deutschland mit 19 oder 20 Prozent auf dem zweiten Platz, gefolgt von der AfD auf dem dritten Platz mit bundesweit 16 Prozent.
Sind diese Zahlen Beleg einer tief greifenden Veränderung des Parteiensystems? Markieren sie das Ende der beiden klassischen Volksparteien Union und SPD, die bei der Bundestagswahl 1972 zusammen noch auf 90,7 Prozent, vier Jahre später sogar auf 91,2 Prozent gekommen waren und jetzt miteinander nur noch auf 40 Prozent kommen?
Panik geht um im Konrad-Adenauer-Haus wie im Willy-Brandt-Haus, dass es ihren Parteien so ergeht wie den einst so mächtigen Schwesterparteien in Italien, den Niederlanden oder Frankreich, die längst in der Bedeutungslosigkeit gelandet oder gar von der Bildfläche verschwunden sind. Die Fragmentierung der Gesellschaft, die Auflösung der einst so fest gefügten sozialen Milieus und die zunehmende Individualisierung erfassen auch die Volksparteien. Allerdings ist das keine völlig neue Entwicklung, wie Matthias Jung, Chef der Mannheimer Forschungsgruppe Wahlen gegenüber dieser Redaktion hervorhebt. Das Parteiensystem befinde sich schon „seit längerem“ in einem Umbruch. „Unsere Gesellschaft hat sich in den letzten Jahrzehnten massiv verändert. Sie ist unideologischer, säkularer, individueller und mittiger geworden.“ Dadurch falle es den alten großen Volksparteien zunehmend schwerer, mit Hilfe alter Ideologien unterschiedliche Interessen und Orientierungen unter ihrem Dach zu vereinen, so Jung. Mit weitreichenden Folgen: „Eine als unzureichend wahrgenommene Interessenvertretung wiederum hat eine gewachsene Zahl von sonstigen Parteien erstarken lassen.“ Die gesunkene Integrationskraft der Volksparteien führt nach den Erkenntnissen des Forschers zwangsläufig auch zu einer verringerten Fähigkeit des politischen Systems, unterschiedliche Interessen und Intentionen zu einem gemeinsamen, mehrheitlich unterstützten politischen Willen zu integrieren. „Stabiler, konstruktiver politischer Konsens wird zunehmend Mangelware.“
Trotz ihrer Werte um die 20 Prozent und ihres zweiten Platzes wehren sich die Grünen dagegen, Volkspartei zu werden. Schon den Begriff lehnen sie ab. Volkspartei, sagt Parteichef Robert Habeck, sei „eine Simulation“, vergleichbar mit einer „Matrix“, mit der „alle Unterschiede in einer Partei nivelliert“ würden. Das wollten die Grünen nicht sein. Zudem weisen Parteienforscher auf die strukturellen Probleme der Grünen hin, die beispielsweise in den fünf neuen Ländern noch immer äußert schwach verankert seien, nur wenige Mitglieder hätten und bei jeder Wahl um den Wiedereinzug in den Landtag kämpfen müssten.