Schon die erste Rede Julia Timoschenkos löste in Brüssel reichlich Unbehagen aus. Sie sei sich sicher, sagte die gerade aus dem Gefängniskrankenhaus entlassene Galionsfigur der ukrainischen Opposition am Samstag auf dem Maidan-Platz, dass ihr Land „in kurzer Zeit“ Mitglied der EU sein werde. Zwar hört man am Sitz der Union pro-europäische Töne aus Kiew gerne, von einer Vollmitgliedschaft war aber eigentlich nicht die Rede.
Noch vor wenigen Tagen sagte der FDP-Europapolitiker und Außenexperte seiner Fraktion, Alexander Graf Lambsdorff, gegenüber dieser Zeitung, „dass ein EU-Beitritt nicht unmittelbar ansteht, habe ich bei allen Gesprächen in Kiew und anderen Stationen immer wieder betont“. Der Meinung sind längst nicht alle Regierungen der 28 Mitgliedstaaten. Vor allem die EU-Länder im Osten wie Polen und Ungarn drängen auf eine Aufnahme ihres Nachbarn, um Kiew endgültig dem russischen Einfluss zu entziehen. Als die Außenminister der EU sich vor wenigen Tagen auf ein neues Angebot an die Ukraine verständigten, war es Warschaus Außenamts-Chef, der die Formulierung durchsetzte, ein Assoziierungs- und Freihandelsvertrag müsse nicht das Ende der Zusammenarbeit sein.
Deutschland gehört dagegen zur Speerspitze derer, die – zumindest bisher – konkrete Zusagen vermieden haben. In Regierungskreisen war man denn auch über die klare Ansage Timoschenkos wenig erfreut. Schließlich weiß man nicht nur in Berlin, dass solche Sätze viel Hoffnung machen, die dann enttäuscht werden müssen – schon alleine wegen des für alle Neulinge verpflichtenden Beitrittsprozesses.
Der kann sich nämlich nach Einschätzung von Brüsseler Experten gut zehn bis sogar 15 Jahre hinziehen. Zuerst einmal braucht die Ukraine eine demokratisch gewählte Regierung, die einen offiziellen Antrag stellt. Noch bevor die Verhandlungen über eine Aufnahme – gegliedert nach insgesamt 34 Verhandlungskapiteln – beginnen können, muss Kiew die Voraussetzungen dafür schaffen, wie sie in den sogenannten Kopenhagener Kriterien von 1993 festgelegt wurden.
Dazu zählen das Herstellen einer freiheitlich-demokratischen Staatsform, Rechtsstaatlichkeit sowie die Achtung der Menschenwürde. Generell wird das Erfüllen von vier Kriterien gefordert, ehe der ersehnte Status eines „Beitrittskandidaten“ verliehen wird: Verfassungsstaatlichkeit, Binnenmarktfähigkeit, Integrationswilligkeit und Erweiterungsfähigkeit. Danach würde die Ukraine den sogenannten Acquis communautaire, also das gesamte EU-Recht mit rund 80 000 Gesetzesseiten, in ihr politisches System übernehmen müssen. Sollte dieser Vorgang abgeschlossen sein, wird der Beitrittsvertrag allen 28 nationalen Parlamenten zur Ratifizierung vorlegt.
Allerdings weiß man in Brüssel auch, dass allein schon die Perspektive ein Land zutiefst verändern kann. „Es gibt Beispiele, in denen die ökonomische Blüte an dem Tag einsetzte, als der Staat zum Beitrittskandidaten erhoben wurde“, sagt ein hoher Kommissionsdiplomat. „Damit allein wäre der Ukraine ja schon geholfen.“ Dass es nicht zu früh ist, seine großen politischen Ziele schnell ins Auge zu fassen, machte der schwedische Außenminister Carl Bildt klar. Er riet den neuen Führern in Kiew: „Das ist die Lehre von Revolutionen: Man muss sofort an morgen und übermorgen denken.“ Sonst drohe ganz schnell das Scheitern.