Frans Timmermans gab sich als strenger Zuchtmeister. Zuerst lobte der Vizepräsident der Brüsseler EU-Kommission am Mittwoch die Türkei für „eindrucksvolle Fortschritte“. Dann aber schlug der Niederländer im Team von Kommissionschef Jean-Claude Juncker die Türe für Ankara erst einmal wieder zu: „Die Türkei muss noch viel tun.“
Seit Tagen hatten Kritiker der Visaliberalisierung Brüssel vor „Rabatten“ gewarnt und gefordert, bei der Erfüllung der insgesamt 72 Kriterien dürfe die Kommission keine Großzügigkeit zeigen. Was Timmermans nun verkündete, bewertete selbst der Türkei-kritische Chef der CDU-Abgeordneten im Europäischen Parlament, Herbert Reul, als „interessanten Vorschlag“.
Denn „die Bedingungen sind strenger als für andere Drittstaaten“. Wichtigster Punkt: Eine visafreie Einreise ist nur mit einem biometrischen Pass möglich. Deren Herstellung ist am Bosporus aber gerade erst angelaufen. Angeblich verfügen gerade mal zehn Prozent der rund 75 Millionen Einwohner über ein solches Dokument. Bis Oktober soll es eine Übergangsregelung geben: Dann könnten auch Reisedokumente von kurzer Gültigkeit anerkannt werden. Aber auch die müssen über ein Passfoto und einen Fingerabdruck verfügen.
Bedingungen für Ankara
Brüssel bleibt hart. Damit nicht genug: Die türkische Regierung muss den Kampf gegen Korruption verschärfen, mit der europäischen Polizeizentrale zusammenarbeiten und die Kooperation mit den EU-Staaten in Sachen Justiz aufnehmen. Außerdem sind die nationalen Gesetze zu Datenschutz und zu Anti-Terror-Kampf auf das EU-Niveau zu bringen.
Das klingt einfacher, als es ist. Denn die Regierung des scheidenden Ministerpräsidenten Ahmet Davutoglu wird dafür die Sicherheitsbehörden aus der Umklammerung der Regierung und vor allem des Präsidenten befreien müssen. „Das wäre ein tief greifender politischer Wandel für das Land und vor allem seine Spitze“, hieß es am Mittwoch in Brüssel. Doch Timmermans machte klar: „Ohne Erfüllung aller Punkte gibt es keine Reisefreiheit.“
„Der Ball liegt jetzt in Ankara“, betonte Manfred Weber, der Vorsitzende der christdemokratischen EVP-Mehrheitsfraktion im EU-Parlament. „Die Verantwortung für mögliche Verzögerungen auch.“ Das stimmt, ist aber nur die halbe Wahrheit. Denn auch die Gemeinschaft selbst muss sich neu erfinden, um das Flüchtlingspaket mit der Türkei endlich vollständig umzusetzen. Dazu gehört der Umbau des auf europäischer Ebene nicht mehr funktionierenden Asylsystems.
„Die Zeit ist reif für ein reformiertes, gerechteres System mit gemeinsamen Regeln und einer fairen Lastenteilung“, betonte der für Migrationsfragen zuständige EU-Kommissar Dimitris Avramopoulos. Im Endstadium soll das bisherige Unterstützungsbüro für Asylfragen (EASO) anstelle der nationalen Behörden in den Mitgliedstaaten alle Verfahren nach gleichen Kriterien durchführen.
Bis dahin aber wird es bei einem gelifteten Dublin-System bleiben. Die Mitgliedstaaten stünden in der Pflicht, Flüchtlinge aufzunehmen. Erst wenn sie regelrecht überlaufen werden (konkret: 50 Prozent mehr Schutzsuchende aufgenommen haben, als sie aufgrund ihrer Größe, ihrer Wirtschaftskraft und ihrer bisherigen Bemühungen für Neuansiedlungen müssten), sollen die legalen Zuwanderer auf andere Staaten verteilt werden.
Völlig neu ist: Wer sich einer Aufnahme verweigert, muss zahlen. 250 000 Euro pro Flüchtling – und zwar an den Staat, der den Betroffenen stattdessen aufnimmt.
Hoher politischer Preis
Diese sogenannte „Fairness-Regelung“ darf allerdings nicht lange auf sich warten lassen. Denn zum Deal mit Ankara gehört auch, dass für jeden Flüchtling, den die Türkei Griechenland wieder abnimmt, ein syrisches Kriegsopfer legal in die EU einreisen darf. Außer Deutschland, Österreich, Schweden und fünf weiteren Ländern sperren sich bisher alle anderen, was die versprochene Entlastung Ankaras ins Stocken bringt. Die Türkei aber wird auf die gegebenen Zusagen pochen, wenn man von ihr nun einen hohen politischen Preis fordert, um die Reisefreiheit für ihre Bürger endlich zu erreichen.
Timmermans bilanzierte die Vorschläge seines Hauses am Mittwoch jedenfalls mit gewichtigen und mahnenden Worten: „Wir dürfen uns vor unserer Verantwortung nicht davonstehlen.“ Er meinte beide Seiten, die nun Partner sind: die EU und die Türkei.
Mit Appellen allein dürfte es aber nicht getan sein: Alle Inhalte des Brüsseler Asylpaketes und der Visaliberalisierung müssen noch vom EU-Parlament sowie den Staats- und Regierungschefs gebilligt werden. Und in beiden Gremien gibt es zum Teil erheblichen Widerstand.